Altersarmut – ein sozialer Sprengstoff
Den Alten gehe es doch gut, lautet eine gängige Meinung. Dieser Eindruck ist nicht gänzlich falsch, doch er blendet einen Teil der Wirklichkeit aus. Das Buch von Nora Meuli und Carlo Knöpfel liefert Fakten und Einschätzungen, die einen Blick in wenig beachtete Lebenswelten des Alters in der Schweiz ermöglichen.
In Zeiten der Pandemie gehen die Ängste um: Werde ich möglicherweise meinen Arbeitsplatz verlieren, hat die Branche, in der ich tätig bin, noch eine Zukunft, was wird aus meinen Kindern? Einmal ganz abgesehen von der Frage, ob ich und meine Lieben gesund bleiben oder Schäden an Leib und Seele davontragen werden. Manche solcher Ängste spüren auch ältere Menschen. Sie wissen aber, dass ihre materielle Existenz durch das System der Altersvorsorge einigermassen gesichert ist – vorausgesetzt, ihre Renten sind hoch genug, um die «gewohnte Lebensweise» fortsetzen zu können, wie es in der Bundesverfassung heisst.
Verschiedene Studien aus jüngerer Zeit haben nun aber gezeigt, dass Altersarmut keineswegs ein Relikt der Vergangenheit ist. Rund ein Fünftel aller Personen in der Schweiz ab 65 Jahren gelten als «armutsgefährdet». Die Armutsgefährdung setzt dort ein, wo Haushalte über weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens verfügen. (Der Median teilt die obere Hälfte der Haushalte von der unteren, geschichtet nach dem jeweiligen Einkommen.) Das soziale Existenzminimum gemäss den Richtlinien der Sozialhilfe liegt noch einmal deutlich darunter. Dieses Existenzminimum erreichen annähernd zehn Prozent der Personen im AHV-Alter nicht.
Nichtbezug trotz Anspruch
Ein wichtiges Instrument im Kampf gegen die Altersarmut sind die seit Mitte der 1960er Jahre bestehenden Ergänzungsleistungen (EL). Sie sollten eigentlich dafür sorgen, dass alle Menschen im Alter ein gesichertes Leben führen können – zumindest auf bescheidener Basis. Nun zeigt sich allerdings, dass rund 16 Prozent aller Rentner:innenhaushalte keine EL beziehen, obwohl sie eigentlich Anspruch darauf hätten. Die Autorin und der Autor fragen sich, ob dieser Verzicht auf Freiwilligkeit beruht oder ob die bürokratischen Hürden zu hoch sind, um zu diesen Leistungen zu gelangen. Eine definitive Antwort lässt sich nicht geben, denn der Nichtbezug spielt sich in einem gesellschaftlichen Dunkelfeld ab. Auf jeden Fall lässt sich aber feststellen, dass der Sozialstaat hier versagt: Er erreiche jene nicht, «die am meisten darauf angewiesen wären», schreiben die beiden.
Das System der Altersvorsorge gleicht die durch Geschlecht, Beruf und Herkunft bedingten materiellen Unterschiede nur zu einem kleineren Teil aus: Die AHV praktiziert in einem gewissen Masse Umverteilung, indem die Beiträge auf das gesamte Einkommen geleistet werden müssen, die Renten aber nach oben gedeckelt sind. Die Leistungen aus der zweiten Säule, der beruflichen Vorsorge, richten sich aber nach den geleisteten Beiträgen – und die sind einkommensabhängig. So kommt es, dass viele Frauen wegen Teilzeitarbeit und Unterbrüchen in der Erwerbstätigkeit oft nur geringe Renten aus dieser zweiten Säule beziehen. Bei 80 Prozent der alleinstehenden Rentner*innen ist die AHV die wichtigste Einnahmequelle. Bei Paaren gilt das für immerhin 60 Prozent der Haushalte.
Vermögensverzehr bei Pflegebedürftigkeit
Die Unterschiede der Einkommen zwischen den untersten und den obersten 20 Prozent der Paarhaushalte im Rentenalter beträgt eins zu vier. Noch sehr viel deutlicher sind die Unterschiede beim Vermögen: Sie betragen, über den Daumen gepeilt, eins zu hundert! Das ist die Realität einer Klassengesellschaft, an der auch der Sozialstaat wenig zu ändern weiss. Der Schutz des Eigentums steht im Vordergrund. Das sieht allerdings ganz anders aus, wenn Menschen mit einem kleinen oder mittleren Vermögen in die Lage kommen, pflegebedürftig zu werden. Dann schwindet das Ersparte schnell dahin. Dieser Vermögensverzehr stellt für das oberste Fünftel kaum ein Problem dar: Auch im Pflegefall lassen sich die laufenden Kosten vielfach aus den Vermögenserträgen finanzieren.
Die meisten Schweizer Kantone haben die Erbschaftssteuern in den vergangenen Jahrzehnten abgeschafft und der Vorstoss für eine eidgenössische Erbschaftssteuer wurde vor einigen Jahren mit grossem Volksmehr abgelehnt. Genützt hat dies vor allem den Reichen – und jenen aus dem Mittelstand, die das Glück haben, nicht pflegebedürftig zu werden bzw. von Angehörigen betreut und gepflegt zu werden. Alle anderen werden zur Kasse gebeten. Hier findet eine stille Enteignung des berühmten «Mittelstandes» statt, die in der Sphäre der Politik bislang höchst selten thematisiert worden ist.
Exorbitante Kostenunterschiede je nach Kantonszugehörigkeit
Im Buch von Nora Meuli und Carlo Knöpfel geht es jedoch nicht nur um die unterschiedlichen sozialen Lagen «oben» und «unten», sondern auch um die Unterschiede im Raum des Föderalismus. Die Differenzen zwischen den Kantonen sind exorbitant. Sie zeigen sich vor allem anhand der Frage, welche Betreuungs- und Pflegekosten die Betroffenen selbst zu bezahlen haben. So kostet der Aufenthalt in einem Pflegeheim bei gleichem Betreuungs- und Pflegebedarf, je nach Wohnort, zwischen 42'000 Franken und 91'600 Franken! (Die Zahlen stammen aus dem Jahr 2018.)
Auf Fragen der Betreuung gehen die Autorin und der Autor in ihrer Untersuchung vertieft ein. Sie weisen darauf hin, dass Betreuungskosten von den zu Betreuenden selbst zu tragen sind – im Gegensatz zu den Pflegekosten, die zu einem beträchtlichen Teil von Krankenkassen und öffentlicher Hand übernommen werden. Hier zeigt sich eine wesentliche Lücke im schweizerischen System der Altersvorsorge: Der Staat geht davon aus, dass Betreuungsaufgaben von Familienangehörigen und Freiwilligen zu leisten sind, falls die Betroffenen nicht über die notwendigen Mittel zum Einkauf solcher Leistungen verfügen. Verschiedene Nonprofit-Organisationen bieten Betreuung zu günstigen Preisen an, doch dieses Angebot ist im Vergleich zum vorhandenen Bedarf bloss ein Tropfen auf den heissen Stein. Es ist gerechtfertigt, hier von einem Systemversagen zu sprechen.
Gesellschaftlicher Zusammenhalt gefährdet
Nora Meuli und Carlo Knöpfel machen mit ihrem Buch die Notwendigkeit gründlicher Reformen im Bereich der Altersvorsorge deutlich. Dabei kann es sich nicht um sogenannte Reformen handeln, die hauptsächlich auf Sparmassnahmen hinauslaufen. Das Spar-Credo einer politischen Mehrheit ist nicht zielführend, denn an guten Lebensbedingungen im Alter kann nicht gespart werden. Die notwendigen Ressourcen wären vorhanden, wie sich am akkumulierten privaten Reichtum einer Minderheit der alten Menschen zeigt. Eine Neuverteilung dieses Reichtums, beispielsweise mittels einer nationalen Erbschafts- und Schenkungssteuer, wäre möglich – wenn der politische Wille dafür zum Ausdruck käme.
Drückt sich in einer solchen Aussage ein unrealistisches Wunschdenken aus? Vielleicht sollten wir die Sache von einer anderen Seite her betrachten: Wachsende Unterschiede in den Lebenslagen von älteren wie von jüngeren Menschen tragen dazu bei, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt gefährdet wird. Altersarmut kann sich auf diese Weise zu einem sozialen Sprengstoff entwickeln. Da von Armut Betroffene oder Bedrohte in der Schweiz (anders als beispielsweise in Frankreich) kaum auf die Strasse gehen, wirkt dieser Stoff eher im Sinne einer Implosion als einer Explosion. Wenn’s aber in den Fundamenten der Gesellschaft bröselt und bröckelt, werden auch die Reichen auf Dauer nicht mehr gut schlafen können.
Nora Meuli, Carlo Knöpfel
Ungleichheit im Alter. Eine Analyse der finanziellen Spielräume älterer Menschen in der Schweiz.
Zürich/Genf: Seismo Verlag, 2021. 220 S.
Buch und Online-Publikation in ZHAW swisscovery
Zum Rezensenten
Kurt Seifert ist freier Publizist mit Schwerpunkt Alterspolitik und Autor des Buchs «Eine Jahrhundertgeschichte: Pro Senectute und die Schweiz 1917-2017».