Subjektfinanzierung für Menschen mit Behinderung: Wie klärt man den Bedarf?
Menschen mit Behinderung haben das Recht auf eine unabhängige Lebensführung. Die Subjektfinanzierung soll das ermöglichen. Doch für die individuelle Bedarfsermittlung braucht es Zeit – und eine aktive Begleitung
Von Christian Liesen und Angela Wyder
Florian Meier ist fast 40, und er ist enttäuscht. Seit vielen Jahren lebt er in einer Stiftung für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen. Dort fühlt er sich zwar wohl, aber seit ein paar Jahren werden Bedarfsabklärungen mit ihm durchgeführt. Zum dritten Mal hat er jetzt am Bedarfsermittlungsverfahren teilgenommen. Zum dritten Mal hat er erzählt, was er will. Und wieder ist nichts passiert. Dabei will er doch Seefahrer werden. Schweizer Seefahrer. Das hat er dreimal laut und deutlich zu Protokoll gegeben.
Florian Meiers Wohnkanton hat einen Wechsel von der objekt- zur subjektorientierten Finanzierung vollzogen. Deren Ziel ist es, dass Menschen mit Behinderung ihr Leben freier gestalten können. Dafür sind finanzielle Mittel entsprechend dem Unterstützungsbedarf vorgesehen. Doch nicht mehr die Institutionen, sondern die Personen selbst legen fest, wofür sie die Gelder einsetzen wollen. In der Folge müssen Entscheidungen gefällt werden: Wie möchte ich leben? Wer soll mich unterstützen?
Direkte Auswirkung aufs Leben
Für viele Betroffene ist das völlig neu. So auch für Florian Meier. Im ersten Abklärungsgespräch wurde sein Interesse an der Seefahrt freundlich begrüsst. Nach dem zweiten wurde entschieden, sein Zimmer seemännisch zu dekorieren, mit Tauwerk und Schiffen. Am dritten Gespräch war die Mutter von Florian Meier nicht mehr dabei, darüber freute er sich sehr. Aber hinterher konnte er kaum einordnen, welche Ergebnisse das Gespräch hatte. Was war denn nun mit seinem Wunsch, selbst zu bestimmen, wie er die Gelder verwenden will?
In subjektorientierten Finanzierungen ist die Bedarfsermittlung ein entscheidendes Moment. Das neue System wird hier für alle Akteurinnen und Akteure zum ersten Mal erleb- und spürbar. Denn um die benötigten Ressourcen individuell und bedarfsgerecht zuzuteilen, muss dargelegt werden, wie hoch der Unterstützungsanspruch jeder einzelnen Person ist. Das Ergebnis bestimmt über den zugestandenen Ressourcenumfang – und wirkt sich direkt im Leben der Person aus.
Individuelle Situation abbilden
Die Prozesse, die Personen wie Florian Meier durchmachen, lassen sich in den Bedarfserfassungsinstrumenten nicht gut abbilden. Denn diese Prozesse können nur zu einem kleinen Teil während der Bedarfserfassung stattfinden. Sie brauchen Zeit und aktive Begleitung. Wenn in Florian Meiers Umfeld niemand versteht, dass «Seefahrer sein» heisst, sich mit der Möglichkeit zu völlig neuen Rollen und Lebensentwürfen auseinanderzusetzen, kann der Vorgang der Bedarfserfassung daran nichts ändern.
Freilich wird viel Energie auf die Bedarfserfassung verwendet. In der Schweiz werden dazu verschiedene Instrumente eingesetzt. Die Erwartungen an sie sind vielschichtig. Ein solches Instrument soll objektiv, einheitlich und klar in den Beurteilungskriterien sein, zugleich aber einfach und flexibel in der Handhabung. Und es soll die individuelle Situation realistisch abbilden. Der Mensch soll sagen können, was er braucht, er soll sich «gesehen» fühlen. Ausserdem soll das Ergebnis vergleichbar, eindeutig und fair sein.
Verschiedene Perspektiven einbeziehen
Zu diesen vielfältigen, ja kaum vereinbaren Erwartungen kommt es, weil für das Verständnis darüber, was ein Bedarf ist, unterschiedliche Bezugsgrössen bestehen: Menschen mit Behinderung definieren den Bedarf im Hinblick auf ihre individuellen Bedürfnisse, persönlichen Ziele und Lebensvorstellungen. Ein Kanton dagegen behält in der Definition des Bedarfs die Unterstützung für sämtliche anspruchsberechtigten Menschen im Blick. Er möchte seine finanziellen Mittel gerecht verteilen und fragt sich, welche Leistungen es geben muss und was allen Menschen möglich sein soll.
Die Leistungsanbieter schliesslich haben eine organisationale Perspektive. Sie möchten mit ihren Angeboten und Leistungen dem individuellen Bedarf entsprechen und zugleich das eigene Bestehen sichern. Aus den genannten Gründen ist die Bedarfsermittlung hoch komplex und wird zur Projektionsfläche zahlreicher Anliegen. Was also sollten Fachpersonen wissen, die Menschen wie Florian Meier im Bedarfsermittlungsprozess begleiten?
«Die Bedarfsabklärung ist noch kein Garant dafür, dass ein Mensch mit Behinderungen am Ende mehr Selbstbestimmung oder Wahlfreiheit geniesst. Man muss deshalb auch gezielt bei den Leistungen ansetzen.»
Christian Liesen, Dozent und Forscher
Ein solches Verfahren hat zwei Ebenen. Auf der Grundlagenebene wird zunächst festgelegt, welche Elemente und Abläufe für die Entscheidungsfindung anzuwenden sind. Dadurch wird das Instrument definiert. Klassischerweise gehören eine Selbsteinschätzung, eine Fremdeinschätzung sowie ein Abklärungsgespräch mit allen involvierten Personen dazu. Die Selbsteinschätzung wird von der betroffenen Person ausgefüllt, gegebenenfalls mit Unterstützung oder in Stellvertretung.
Die Fremdeinschätzung enthält die spezifisch fachlichen Perspektiven. Diese können ergänzt werden durch nahestehende Personen: Damit wird die Selbsteinschätzung abgerundet. Das Abklärungsgespräch dient der Plausibilisierung der Bedarfseinschätzungen. Es klärt voneinander abweichende Einschätzungen und sorgt dafür, dass weder eine Unter- noch Überversorgung resultiert. Die Bedarfsermittlungsinstrumente unterscheiden sich darin, welche Elemente sie vorgeben und welche Abläufe sie zur Bedarfsfeststellung verlangen.
Abfolge von Entscheidungen
Auf der zweiten Ebene, der eigentlichen Durchführung, arbeitet man sich zur Entscheidung vor: dem Leistungsanspruch einer Person. Gesetzt ist dabei erst einmal nur, dass am Ende ein Ergebnis stehen wird. Wie dieses konkret aussieht, kann über längere Zeit hinweg offenbleiben. Die Durchführungsebene ist – und das mag überraschen – konkurrierend und kontradiktorisch angelegt. Sie muss mehrere und auch widersprüchliche Perspektiven ins Verhältnis setzen. Sie funktioniert nicht, wenn eine Seite darauf verzichten würde, ihre eigenen Interessen zu vertreten.
So ergibt sich eine Abfolge von selektiven Entscheidungen, mit denen nacheinander eine Konstellation von Fakten und Sinnbeziehungen aufgebaut wird und Alternativen eliminiert werden. Die Situation der Person mündet in eine bestimmte, fassbare Herausforderung. Was ist relevant und was nicht? Was ist zugelassen und was nicht? Welche Personen werden gehört, welche nicht? Was wird als Störung des Ablaufs angesehen, und was wird zu deren Vermeidung getan?
«Eine Unterstützung zu erhalten, die den persönlichen Lebensvorstellungen entspricht, ist nicht mit Wunscherfüllung zu verwechseln. Es werden nicht Wünsche wahr, sondern Bedarfe gedeckt.»
Angela Wyder, Dozentin und Forscherin
Dabei gibt es keine vorgegebenen Muster, die man abarbeiten kann. Stattdessen wird etwas Neues erarbeitet: eine einmalige verbindliche Entscheidung beziehungsweise die Grundlage dazu. Die Entscheidung, die am Schluss steht, ist eine brauchbare, nicht die einzig wahre. Man kann von einer Verfahrenswahrheit sprechen, die man der geldgebenden Stelle entgegenhalten und mit der diese sachlich weiterarbeiten kann. Letztlich ist die Anerkennung des Ergebnisses durch alle Beteiligten wichtiger als die Frage, welches Verfahren zur Anwendung kam.
Ein Knackpunkt für die Brauchbarkeit der Entscheidung ist aber: Die Situation der Person wird mit den Instrumenten differenziert erfasst, doch was dabei herauskommt, muss zu den Leistungen passen, die dann erbracht werden. So gibt es beispielsweise eine Variante der Selbsteinschätzung, welche die persönlichen Ziele von Menschen mit Behinderung in den Vordergrund stellt. Sie fragt nach den individuellen Lebensvorstellungen. Im Anschluss wird verlangt, Massnahmen zu formulieren, die der Zielerreichung dienen.
Kein Wunschkonzert
Diese Variante erfährt in der Praxis eine hohe Akzeptanz bei Menschen mit Behinderung. Sie können ihre Vorstellungen offen formulieren und müssen nicht einen Kriterienkatalog abarbeiten. Sie fühlen sich als handelnde und selbstbestimmte Personen anerkannt, worum sie auch jahrzehntelang kämpfen mussten. Doch im Zuge der selektiven Kettenbildung ist es dann herausfordernd, persönliche Ziele und objektiven behinderungsbedingten Bedarf zu unterscheiden.
Eine Unterstützung zu erhalten, die den persönlichen Lebensvorstellungen entspricht, ist nicht mit Wunscherfüllung zu verwechseln. Es werden nicht Wünsche wahr, sondern Bedarfe gedeckt. Was von den Fachpersonen zu leisten ist, bleibt also ganz unabhängig vom Instrument dasselbe: Ziel ist es, mit den Betroffenen zusammen Perspektiven zu eröffnen und – auf allen Seiten – selbstreferenzielle Betrachtungsweisen zu überwinden.
Bei den Leistungen ansetzen
Man muss die betroffenen Menschen darin begleiten und befähigen, sich mit den eigenen Bedürfnissen, Wünschen, Lebensvorstellungen, Ressourcen und Beeinträchtigungen auseinanderzusetzen. Man muss herausarbeiten, welche Bedarfe hinter den Wünschen und Zielen stecken. Und den Betroffenen dabei Raum geben, sich selbstwirksam erleben zu können, sich mit Rückschlägen auseinandersetzen zu können und Entscheide revidieren zu dürfen.
Damit wird klar: Ein solcher Prozess kann Wochen, Monate oder sogar auch Jahre dauern. Es geht um Lebensentscheidungen und darum, sich selbst überhaupt in der Rolle einer Person wahrzunehmen, die Entscheidungen trifft. Die Bedarfsabklärung ist noch kein Garant dafür, dass ein Mensch mit Behinderungen am Ende mehr Selbstbestimmung oder Wahlfreiheit geniesst. Man muss deshalb auch gezielt bei den Leistungen ansetzen. Zukunftsgerichtete Bedürfnisse verlangen nach zukunftsgerichteten Angeboten.
Mit anderen Worten: Es sind Ideen für Leistungen und Angebote gefragt, die durchlässiger sind als die heutigen. Sie müssen flexibler und näher bei den Betroffenen sein. Dafür müssen Fachpersonen und Organisationen zu einem kreativen und unternehmerischen Umgang mit den Ressourcen finden. Sich im Dreieck von Bedarfsermittlung, Angebotsnutzen und Ressourcen bewegen zu können, wird in einer subjektorientierten Finanzierung zu einem entscheidenden Qualitätsmerkmal.
Weiterbildung Subjektfinanzierung: Angebote für die Zukunft entwickeln
Im neuen CAS Behinderung und Selbstbestimmung – Zukunftsorientierte Angebote entwickeln bringen die Teilnehmenden ihre Angebotsideen an den Start, beispielsweise eine neue Dienstleistung, ein Produkt oder ein Instrument. Sie lernen, wie man Daten, Bedarfe und Ressourcen strukturiert und zukunftsgewandt analysiert und dies für die Angebotsentwicklung und -implementierung nutzt. Die Weiterbildung richtet sich an verantwortliche Fachleute und Führungskräfte aus der Behindertenhilfe, an Disability Entrepreneurs sowie an Selbst- und Stellvertretungen und ihre Organisationen.
Kursleitung: Christian Liesen und Esther Thahabi
Start: 4. Juli 2022
- Subjektfinanzierung stärkt Menschen mit Behinderung
- Menschen mit Behinderung: Zu wenig beachtete Superhelden
- Fokusthema Inklusion und soziale Ungleichheit