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Die Situation von Nutzenden ÖV-ergänzender Fahrdienste in der Schweiz

Beschreibung

Ausgangslage

Viele Menschen in der Schweiz können den öffentlichen Verkehr (ÖV) nicht oder nur beschränkt nutzen, zum Beispiel weil sie eine Geh- oder Sehbehinderung haben. Um dennoch am öffentlichen Leben teilzuhaben, sind die Betroffenen auf ÖV-ergänzende Fahrdienste angewiesen. Verschiedene Versicherungen, zum Beispiel die Krankenkassen, Invalidenversicherung (IV) und Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV), beteiligen sich teilweise an den Fahrkosten. Ebenso finanzieren Stiftungen im Auftrag einzelner Kantone Fahrdienste mit. Allerdings sind die Zuständigkeiten dieser Kostenträger oft nicht geklärt und die Leistungen zweckgebunden sowie begrenzt, so etwa auf eine bestimmte Anzahl Fahrten pro Monat. Wie die Betroffenen diese Einschränkungen erleben und wie sich diese auf ihre Möglichkeiten zu arbeiten oder sozialen Aktivitäten nachzugehen auswirkt, ist bisher wenig bekannt. Die Betroffenensicht ist jedoch relevant, unter anderem auch, da die Schweiz im Rahmen der UNO-Behindertenrechtskonvention sowie des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) verpflichtet ist, die persönliche Mobilität von Menschen mit Behinderungen zu erleichtern.

Zielsetzung

Ziele dieses Forschungsprojekts waren

  • Die Erstellung einer Übersicht zu nationalen/kantonalen Regelungen für ÖV-ergänzende Fahrdienste.
  • Die Beschreibung erlebter Einschränkungen und Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen in diesem Bereich.
  • Die Erstellung von Handlungsempfehlungen und konkreten Lösungsvorschlägen für politische Entscheidungstragende und Verantwortliche relevanter Organisationen.

Methode und Vorgehen

Das Projektteam erfasste die Sicht von Menschen mit Mobilitätseinschränkungen aus verschiedenen Perspektiven und mit mehreren Methoden:

  • Als erstes wurden Erfahrungen von 31 Betroffenen in fünf Gruppendiskussionen qualitativ erhoben.
  • Die Erkenntnisse der qualitativen Erhebung dienten als Grundlage für eine gross angelegte quantitative Befragung in der deutsch-, französisch- und italienischsprachigen Schweiz, an der 536 Personen teilnahmen.
  • Gleichzeitig erstellte das Forschungsteam eine Übersicht über die gesetzlichen Grundlagen der ÖV-ergänzenden Mobilität in der Schweiz.
  • Basierend auf dieser Übersicht sowie den Ergebnissen der qualitativen und quantitativen Erhebung entwickelten die Forschenden Handlungsempfehlungen und bezogen dabei relevante Stakeholder mit ein.

Ergebnisse

Insgesamt nahmen 594 Menschen mit und ohne Behinderung an den Studien des Projektes teil. Davon waren 336 (57%) Frauen, 256 (43%) Männer und zwei anderen Geschlechts. Die Teilnehmer:innen waren zwischen 18 und 103 Jahren alt (m=62,4, SD=19,6). Die Ergebnisse zeigen, dass ÖV-ergänzende Fahrdienste zu unterschiedlichen Zwecken genutzt werden: für Therapie- und Arztbesuche, Freizeitaktivitäten, Einkäufe oder Arbeitswege. Hauptsächlich werden Fahrdienste für kurze Strecken eingesetzt. Der Service der Fahrdienste wird besonders wegen der persönlichen Betreuung von Fahrer:innen, der Verlässlichkeit und Sicherheit geschätzt. Die Nutzung der Fahrdienste variiert je nach Person. Während einige auf alternative Fahrdienste zurückgreifen können, sind ÖV-ergänzende Fahrdienste für andere die einzige Option. Folglich wirken sich gerade für diese Personen die hohen Preise, unklare Finanzierungszuständigkeit, begrenzte Verfügbarkeiten und ungenügende überkantonale Koordination einschränkend aus. Insgesamt ist die rechtliche Verortung von ÖV-ergänzenden Fahrdiensten unklar und die Zuständigkeit von Bund und Kanton nicht eindeutig. Zusammenfassend schätzen Menschen mit Behinderung das Angebot der ÖV-ergänzenden Fahrdienste als eine wichtige Unterstützung für die Ausführung ihrer täglichen Aktivitäten und die gesellschaftliche Partizipation. Dennoch sind Grundrechte von Menschen mit Behinderung tangiert und die Ziele der Behindertenrechtskonvention im Bereich der Mobilität nicht erfüllt. Daraus resultieren folgendeHandlungsempfehlungen:

  1. Ausweitung des Geltungsbereichs des Bundesgesetzes über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderung auf Fahrdienste.

  2. Einbindung der Fahrdienste in den ÖV, indem sie dem Personenbeförderungsgesetz unterstellt werden.

  3. Sicherstellung einer schweizweiten Koordination von Fahrdiensten in den Bereichen Angebot, Nutzung, Bestel-lung und Bezahlung.

Die vollständigen Resultate finden Sie im Abschlussbericht "Gleichberechtigte Mobilität dank ÖV-ergänzender Fahrdienste? : eine Mixed-Method Studie über die Mobilität von Menschen mit Behinderung in der Schweiz" (siehe unten unter "Publikationen").

Eckdaten

Stellv. Projektleitung

Projektteam

Anna Baldissera, Prof. Dr. Philipp Egli, Dr. Martina Filippo, Prof. Dr. Armin Gemperli, Prof. Dr. Verena Klamroth-Marganska, Dr. Ronald Liechti

Projektpartner

Stiftung Behindertentransport Kanton Bern; AGILE.CH Die Organisationen von Menschen mit Behinderung; Universität Luzern

Projektstatus

abgeschlossen, 02/2021 - 07/2024

Institut/Zentrum

Institut für Ergotherapie (IER); Institut für Unternehmensrecht (IUR)

Drittmittelgeber

Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen EBGB; Stiftung Behindertentransport Kanton Bern; Pro Infirmis

Publikationen