Digitale Simulation des Impfzentrums Winterthur
Erstellung eines digitalen Zwillings (DES) zur Optimierung der Prozesse
Beschreibung
AUSGANGSLAGE
Die Gesundheitsdirektion Zürich beauftragte das Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie, sie bei der Planung und Optimierung der Impfzentren im Kanton zu unterstützen. Eine der Teilaufgaben war es, eine Software-Simulation (DES – Diskrete, ereignisorientierte Simulation) des neuen Impfzentrums Winterthur-Töss vorzunehmen. Obwohl die Anwendung von Simulationen zur Optimierung von Prozessen schon seit einigen Jahren bekannt ist, war die konkrete Anwendung auf ein Impfzentrum in der Schweiz ein Novum. Das Ziel der Simulation war es, ein digitales Abbild des Impfzentrums zu erstellen, um Verbesserungspotenziale zu identifizieren und Prozessanpassungen risikofrei zu testen. Zudem sollten Erkenntnisse aufgebaut werden, inwieweit solche Simulationen den Aufbau künftiger Impfzentren unterstützen können.
METHODISCHES VORGEHEN
Die Ausgangslage und Basis jeglicher Simulationen sind Daten zur Dauer eines jeden Ablaufschritts. Deswegen hat das ZHAW-Team um Prof. Dr. Alfred Angerer mit Hilfe von Studierenden zahlreiche Prozessbeobachtung vor Ort durchgeführt. Da keine elektronischen Systemdaten vorhanden waren, wurden manuell tausende von Zeitdauern aufgenommen.Der Impfprozess teilt sich in die Schritte Zugangskontrolle, Check-in, Impfung, Warten im Überwachungsraum und Austritt. Aus all diesen Daten konnten mit Hilfe einer statistischen Software die Verteilungsfunktionen der einzelnen Prozessschritte berechnet werden. In einer weiteren Simulationssoftware wurden massstabsgetreu das Layout des Impfzentrums modelliert. In diesem Modell können virtuelle Impflinge den Gesamtprozess durchlaufen und so die Leistung des Systems genau erfasst werden. Dabei können dutzende Parameter verändert werden, wie die Ankunftsraten der Impflinge, ihre Laufgeschwindigkeit, die Anzahl von offenen Impfstrassen oder der Zeitabschnitt einzelner Prozesse. Die Simulation von 100 Tagen mit über 100.000 Impfungen, dauert auf einem herkömmlichen Rechner nur rund vier Minuten.
ERGEBNISSE
- Die Simulation zeigt, dass das Impfzentrum insgesamt eine sehr gute Leistung hat. Die Durchlaufzeit ist mit rund 32 Minuten vom Eintritt bis zum Austritt als sehr kurz zu betrachten.
- Die kurzen Wartezeiten wurden von der parallellaufenden Befragung von mehr als 10‘000 Geimpften durch PD Dr. Florian Liberatore und Prof. Dr. Julia Dratva bestätigt. Diese zeigten sich sehr zufrieden mit der Leistung des Zentrums. Insgesamt wurde die Leistung des Impfzentrums („Service Experience“) als sehr gut beschrieben (ca. 4.5 auf einer 1-5 Skala), wobei die Wartezeiten als gering empfunden wurden.
- Indem eine Vielzahl an Impflingen zu früh am Impfzentrum ankommen, wird die Dauer der gesamten Durchlaufzeit vergrössert. So erschienen 41 Prozent der Impflinge mindestens 20 Minuten zu früh. Die Simulation zeigte: Wenn statt 41 nur noch zehn Prozent der Personen zu früh ankommen würden, dann wäre die maximale Warteschlange vor dem Impfzentrum um rund 60 Prozent kürzer.
- Die a priori vom Impfzentrum Winterthur getätigten Schätzungen der Prozessdauern haben sich als sehr passend erwiesen. Die Dauer einer Impfung wurde vor dem Aufbau des Impfzentrums auf fünf Minuten geschätzt. Die tatsächliche Dauer des eingespielten Impfteams betrug bei der Erstimpfung 3.8 Minuten (Standardabweichung [SA]: 1.8) und 3.7 Minuten (SA: 2.2) bei der Zweitimpfung.
- Mit Hilfe von Simulations-Experimenten konnte noch weiteres Verbesserungspotenzial identifiziert werden. Das Impfzentrum könnte durch eine Optimierung der Prozesse die tägliche Impfkapazität bis zu 20 Prozent erhöhen, ohne dass es dadurch zu merklich schlechteren Leistungen von u. a. Wartezeiten kommen würde.
ERKENNTNISSE FÜR DIE PRAXIS
- Simulationen können helfen, Was-wäre-Fragen gefahrlos zu beantworten. Der Ausfall von beispielsweise mehreren Impfstrassen aufgrund von Personalmangel kann berechnet und so entsprechende Gegenmassnahmen geplant werden.
- Gutes Projektmanagement und pragmatische Schätzungen haben den Aufbau des Impfzentrums auch ohne komplexe Berechnungen zu einem Erfolg werden lassen. Um die letzten 20 Prozent der Kapazität oder Effizienz aus einem System herauszuholen, ist jedoch die Nutzung komplexer digitaler Technologie notwendig.
- Im Idealfall sollte schon im Vorfeld der Konstruktion des Zentrums die Simulation erfolgen. Damit können verschiedene Planungsvarianten getestet und die Beste ausgewählt werden.
ERKENNTNISSE FÜR DIE WISSENSCHAFT
- Das Erheben der genauen Zeiten und Streuungen der Prozesse sind einmalig im Schweizer Raum. Nur mit dieser Datengenauigkeit kann die Leistung eines Systems – wie ein Impfzentrum, berechnet und genau prognostiziert werden.
- Der grundsätzliche Nutzen von Simulationen für Impfabläufe konnte bestätigt werden. Auch wenn die Modellierung aufwändig ist, der Erkenntnisgewinn rechtfertigt den Aufwand. Speziell bei einem Prozess, der Millionenfach in der Schweiz durchgeführt wird, sind vermehrte Details zu diesen Abläufen sehr wertvoll.
- In der Literatur wird der menschliche Faktor bei solchen Simulationen zu selten berücksichtigt. Doch die Leistung des «Systems Impfzentrum» wurde aufgrund zweier menschlicher Faktoren, «zu früh Ankommen» sowie «Anzahl der Fragen in der Impfkabine» entschieden beeinflusst. Auch wenn die Simulation für den individuellen Menschen diese zwei Faktoren nicht berechnen kann – es kann ausrechnen, wie sich das Kollektiv im Schnitt benehmen wird und die entsprechenden Folgen für die Gesamtleistung prognostizieren.
FAZIT
Das Impfzentrum Winterthur hat die Erwartungen an die Impfleistung voll erfüllt. Diskrete, ereignisorientierte Simulationen können zusätzlich einen Beitrag leisten, indem Sie weitere Kapazitäts- und Effizienzreserven identifizieren. Zukünftig wird die Rolle solcher «digitalen Zwillinge» in einem zunehmend digitalisierten Gesundheitswesen immer wichtiger. Im Idealfall nutzen Praktiker solche Simulationsmodelle, um in Echtzeit die Leistung von Impf- oder Gesundheitszentren zu überwachen und bei Störungen sofort reagieren zu können. Die Nutzung solcher Simulationen für das Gesundheitswesen können überall dort verwendet werden, wo Menschen, Material oder Informationen fliessen und Abläufe entworfen und optimiert werden sollen.
Eckdaten
Projektleitung
Stellv. Projektleitung
Projektteam
Sina Berger, Marco Brunschwiler, Melih Derman, Prof. Dr. Lukas Hollenstein, Sarah Schmelzer, Johanna Stahl
Projektpartner
Gesundheits- und Impfzentrum WIN AG
Projektstatus
abgeschlossen, 01/2021 - 12/2021
Institut/Zentrum
Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie (WIG); Institut für Computational Life Sciences (ICLS)
Drittmittelgeber
Kanton Zürich / Gesundheitsdirektion Zürich