Schul-Ergotherapie für Kinder mit Fluchterfahrung
Wie können wir Kinder mit Fluchterfahrung in Schweizer Regelschulen im Kanton Zürich unterstützen
Beschreibung
Hintergrund:
Durch den aktuellen Russland-Ukraine-Konflikt erreichen die Schweiz neue Flüchtlingswellen. Die Integration der Menschen mit Fluchterfahrungen kann Herausforderungen mit sich bringen, insbesondere für Kinder, die sich mitten in der Entwicklung befinden und besonders vulnerabel sind. Daher formuliert die Schweizer Gesundheitsförderung das Ziel, gute Entwicklungsbedingungen für Kinder mit Fluchterfahrung zu schaffen (Weber, 2020). Das geplante Forschungsprojekt beinhaltet die Entwicklung einer neuen Unterstützungsmassnahme für Kinder mit Fluchterfahrung im Bereich Früherkennung und Frühintervention, um auftretende Probleme schnell zu erfassen und einzudämmen sowie die Ressourcen zu stärken.
Die genaue Zahl von Kindern mit Fluchterfahrung in der Regelschule ist unbekannt, da die Schulen nicht den Aufenthaltsstatus der Kinder erfassen. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei Kindern mit Fluchterfahrungen in Schweizer Regelschulen um eine grosse und für die Gesundheitsförderung und Früherkennung und Frühintervention relevante Personengruppe handelt. Anhand der aktuellen Asylzahlen kann eine Schätzung vorgenommen werden: Im Mai 2023 sind in der Schweiz 126’651 Personen im Asylverfahren, im Kanton Zürich 21'517 (SEM, 2023). Der Anteil der schulpflichtigen Kinder wird auf 35% geschätzt (Kanton Zürich, 2023). Dies bedeutet, dass im Mai 2023 rechnerisch schweizweit 44.327 und im Kanton Zürich 7.531 Kinder mit Fluchterfahrung im Asylprozess stehen. Die durchschnittliche Dauer des Asylverfahrens wird mit maximal 140 Tagen angegeben (SEM, n.d.). Kinder, die in der Schweiz aufgenommen wurden, werden mit Zuweisung in eine Gemeinde der lokalen Regelschule zugewiesen. Dort gilt für die Kinder mit Fluchterfahrung regulär die in der Schweiz geltende Schulpflicht. Daher sind die Kinder – je nach Alter – auch nach Abschluss des Asylverfahrens noch Jahre in der Regelschule, weshalb insgesamt von einer deutlich grösseren Gruppe als den ca. 7.500 im Asylprozess stehenden Kindern in Regelschulen ausgegangen werden kann. Unterstützende Massnahmen in der Schule sind für Kinder "Deutsch als Zweitsprache" (DaZ), sowie Informations- und Beratungsangebote für Lehrende und Kinder, wie zum Beispiel der Schulpsychologische Dienst oder Heilpädagogik (Kanton Zürich, 2023). Trotz dieser Unterstützung scheinen Kinder mit Fluchterfahrung einen schlechteren Bildungserfolg zu haben; so hatten sie z.B. 12% mehr Schulabbrüche in der Schweiz im Jahr 2015 als Kinder ohne Fluchterfahrung (Haug et al., 2007; Kristensen, 2017). Um die Gesundheit und den Bildungserfolg zu fördern, braucht es demnach weitere Unterstützungsmassnahmen. Neben Massnahmen, die die vorhandenen Ressourcen stärken, bieten vor allem Massnahmen zur Früherkennung und Frühintervention bei Problemen eine grosse Chance.
Bei Kindern mit Fluchterfahrungen ist bekannt, dass sie mit vielfältigen Herausforderungen und Stressoren konfrontiert sind (Gingelmaier, 2017; Schouler-Ocak, 2020), welche ihre Gesundheit belasten, das Risiko für Traumafolgestörungen begünstigen (Fegert et al., 2015; Soltan et al., 2022) und ihre Lernfähigkeit einschränken können (Gunsch et al., 2016; A. M. Thabet et al., 2013). Gleichzeitig nehmen Familien mit Fluchterfahrung die psychischen Gesundheitsdienste weniger in Anspruch, so dass eine Anzahl unbehandelter Beeinträchtigungen angenommen werden muss (Bundesamt für Gesundheit & Staatssekretariat für Migration, 2017; Schenk et al., 2007). Daher wäre ein zugänglicheres Gesundheitsangebot im Schulumfeld sinnvoll, da dort eine hohe Erreichbarkeit der Kinder gegeben ist. Bislang gibt es laut der Übersicht von gesundheitsfördernden Massnahmen an Schulen allerdings nur wenig Angebote zur Früherkennung und -förderung (Holdener et al., 2017). Ein Ansatz, der sich aufgrund seiner Handlungsorientierung besonders für die Früherkennung und Frühintervention bei Kindern mit Fluchterfahrung eignet, ist die Ergotherapie. So zielen ergotherapeutische Massnahmen darauf ab, die vorhandenen Ressourcen und die Resilienz zu stärken, um eine bessere Alltagsbewältigung und Partizipation zu ermöglichen (Stademann & Tsangaveli, 2016). Als medizinisch-therapeutischer Beruf wird Ergotherapie zur Diagnose und Förderung der Handlungsfähigkeit und Partizipation eingesetzt (ErgotherapeutInnen-Verband Schweiz EVS, n.d.). In der Schweiz sind schulergänzende ergotherapeutische Massnahmen nicht standardmässig etabliert, scheinen aber durch das konkrete Tun und die Aktivierung vorhandener Ressourcen eine vielversprechende Massnahme in der Traumatherapie zu sein (Attard & Larkin, 2016; Trimboli et al., 2019, 2021), mit der bestehenden Lücke in der Früherkennung und -Förderung im schulergänzenden Angebot des Kantons Zürich geschlossen werden könnten. In einer Machbarkeitsstudie der ZHAW (Roos et al., 2023) und praktischen Projekten des Vereins emf ( www.emf-schweiz.ch) wurden im Kanton Zürich bereits einige Praxiserfahrungen gesammelt, die die Machbarkeit unterstützen und Hinweise auf die Wirksamkeit aus Kinder- und Lehrendenperspektive. bieten.
Ziele / Fragestellung:
Im vorliegenden Forschungsvorhaben sollen in einem partizipativen Prozess schulergänzende ergotherapeutische Massnahmen entwickelt werden. Ziel ist es, ein Behandlungskonzept zu erarbeiten auf Grundlage aktueller Studienergebnisse, bisherigen ergotherapeutischen Interventionen und ersten Praxiserfahrungen im Kanton Zürich sowie Rückmeldungen von Lehrenden und andern involvierten Stakeholder in Fokusgruppeninterviews. Dieses Behandlungskonzept soll dann in einer weiterführenden Pilotstudie auf die gewünschte Wirksamkeit im Kanton Zürich getestet werden.
Methode:
Vorgesehene Hauptaktivitäten
Das Forschungsvorhaben integriert zunächst aktuelle Studienergebnisse, um ein Behandlungskonzept zu erstellen (Roos et al., 2023; Soltan et al., 2022; Trimboli et al., 2021). Mit der Verlaufsdokumentation der Praxisprojekte des Vereins emf werden Praxiserfahrungen integriert. Um den Bedarf der Schulen zu erfassen, wird das Behandlungskonzept exemplarisch Lehrenden und anderen involvierten Stakeholdern von 5 Schulen im Kanton Zürich vorgestellt und in 5 Fokusgruppeninterviews kritisch diskutiert. Das Ergebnis des Forschungsvorhabens bildet ein evidenzbasiertes Behandlungskonzept für eine schulergänzende ergotherapeutische Massnahme. In der geplanten Pilotstudie kann die entwickelte Massnahme geprüft und zum Bewilligungsverfahren der Volksschulen im Kanton Zürich vorgelegt werden (Stadt Zürich, 2023). Methodisches Vorgehen Evidenzbasierte Gesundheitsleistungen setzen sich aus dem Einbezug von wissenschaftlichen Erkenntnissen, Praxiserfahrungen und individuellen Bedürfnissen der Klient:innen zusammen (Sackett, 1997). In dem geplanten Forschungsvorhaben wird das Behandlungskonzept unter diesen Kriterien entwickelt. Eine Übersicht aktueller Forschungsergebnisse wird gerade in einer systematischen Literaturrecherche erstellt und ist nicht Teil diesen Forschungsvorhabens. Die Ergebnisse fliessen aber in die Entwicklung des Konzepts ein. Die Praxiserfahrungen werden durch die bereits durchgeführten ergotherapeutischen Projekte abgeholt, bei denen die Verlaufsdokumentation ausgewertet werden. Die individuellen Bedürfnisse der Klient:innen aus der Perspektive der Schulen werden durch Fokusgruppeninterviews mit den Lehrenden und andern involvierten Stakeholdern erhoben und in die Gesamtergebnisse integriert. Datenerhebung Durch praktische Projekte des Vereins emf wurden im Kanton Zürich bereits Praxiserfahrungen von etwa 180 Interventionen gesammelt. Die zugehörigen Verlaufsdokumentationen werden dem vorliegenden Projekt anonymisiert zur Verfügung gestellt (siehe Beilage 1). Diese Daten können retrospektiv ausgewertet werden. Um das Behandlungskonzept auf die Bedürfnisse der Lehrenden abzustimmen und die Erfahrungen anderer involvierter Stakeholder wie zum Beispiel der schulpsychologische Dienst, DaZ-Lehrende oder Heilpädagog:innen, werden zusätzlich Fokusgruppeninterviews durchgeführt. Fokusgruppeninterviews erlauben es, die Meinung valide und reichhaltig zu erfassen und sind kostengünstiger als individuelle Interviews (Tausch & Menold, 2015). Es sind 5 Fokusgruppeninterviews geplant, bei Bedarf werden jedoch noch weitere Fokusgruppeninterviews durchgeführt bis der Grad der Sättigung erreicht ist (Flick, 2019). Es werden exemplarisch Schulen des Kantons Zürich angefragt und Lehrende und involvierte Stakeholder rekrutiert. Datenanalyse Die bereits vorliegenden Verlaufsdokumentationen bestehen in schriftlicher Form und werden mit Hilfe des Computerprogramms MAXQDA im Rahmen einer induktiven Inhaltsanalyse ausgewertet (Kuckartz, 2016). Bei einer induktiven Inhaltsanalyse werden die Daten zunächst in Codes und dann in übergreifende Themen zusammengefasst. Die aufkommenden Themen werden mit wissenschaftlichen Forschungsergebnissen rückverglichen. Die Fokusgruppeninterviews werden transkribiert (Flick, 2019) und ebenso nach der induktiven Inhaltsanalyse ausgewertet (Kuckartz, 2016). Das Behandlungskonzept wird mit Hilfe der Themen aus den Analysen geprüft und bei Bedarf ergänzt.
Nutzen/Resultate:
Lehrende und Schulen:
Lehrende sind im Moment mit einer erneuten Flüchtlingswelle konfrontiert, in der die betroffenen Kinder in Regelschulen aufgenommen werden. Es ist davon auszugehen, dass ein Anteil dieser Kinder Probleme entwickeln wird (Rousseau et al., 2005; A. A. Thabet et al., 2008). Diese Probleme können die Lernfähigkeit, aber auch die Schulpartizipation beeinflussen, so dass Lehrende auf diese Einschränkungen reagieren müssten. Eine ergotherapeutische schulergänzende Massnahme könnte den Lehrenden zusätzliche Unterstützung bieten. Schulen können Familien mit Fluchterfahrung ein erweitertes Angebot bieten und ihre Mitarbeitenden entlasten. Kinder mit Fluchterfahrungen und ihre Familien: Als längerfristige Zielgruppe profitieren die Kinder selbst und ihre Familien von der ergotherapeutischen Massnahme. Die Kinder werden in ihren Ressourcen gestärkt und in der Handlungsfähigkeit gefördert, so dass die Alltagsbewältigung und Partizipation gut gelingen. In den Praxisprojekten des Vereins emf gaben die Kinder an, dass ihnen die ergotherapeutische Massnahme Freude bereitet habe, sie sich dadurch zum Beispiel selbstbewusster und sozial sicherer fühlten (Ergotherapie für Menschen mit Fluchterfahrung (emf), n.d.). Regionale Verankerung: Das vorliegende Forschungsvorhaben ist Teil eines umfassenderen Forschungsprojekts bei denen bereits die Stiftung für Ergotherapie ( ergo-stiftung.ch) und das Kompetenznetzwerk Child and Youth Public Health Research Cypher (https://www.zhaw.ch/de/forschung/departementsuebergreifende-kooperationen/cypher-kompetenznetzwerk/) finanzierend mitwirken. Bei der Bildungsdirektion des Kantons Zürich ist Ramon Muhl, Sektorenleitung IKP, auf das Forschungsprojekt aufmerksam geworden und hat an einer Weiterentwicklung Interesse und Unterstützung bekundet. Das Staatssekretariat für Migration SEM ist mit Rita Kieffer, Fachspezialistin Sektion Berufliche Integration, über das geplante Forschungsprojekt informiert und begrüsst eine Umsetzung. Es besteht eine Zusammenarbeit mit der Universität Zürich (UZH), durch Prof. Dr. Markus Landolt vom psychologischen Institut, sowie PD Dr. Naser Morina vom USZ Universitätsspital Zürich. Beide Fachexperten schätzen eine schulergänzende ergotherapeutische Massnahme aus bio-psycho-sozialer Perspektive als vielversprechend ein und stellen ihre fachliche Unterstützung als Eigenleistung zur Verfügung.
Eckdaten
Projektleitung
Stellv. Projektleitung
Projektteam
Prof. Dr. Markus Landolt, Dr. Naser Morina
Projektpartner
Universitätsspital Zürich; Universität Zürich
Projektstatus
abgeschlossen, 09/2023 - 01/2024
Institut/Zentrum
Institut für Public Health (IPH); Institut für Ergotherapie (IER)
Drittmittelgeber
Gemeinnütziger Fonds Kanton Zürich (ehemals Lotteriefonds Kanton Zürich)