«An der ZHAW wurde ich gesehen.»
Sie hat mit 44 noch einmal alles auf Anfang gestellt. Jetzt ist die ehemalige Heilpädagogin Sara Seichter fallführende Psychologin im Ameos Seeklinikum Brunnen und endlich dort angekommen, wo sie sich genau richtig fühlt.
Angesprochen auf ihr Studium bei der ZHAW, leuchten Sara Seichters Augen auf: «Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, als die Zusage für mein Psychologie-Studium kam. Ich war mit meinen Schüler:innen auf einer Wanderung, als ich den Anruf entgegennahm. Jemand hat ein Foto von mir gemacht, wie ich dort stand, mit geballter Faust in der Luft. Das war der Moment, als ich dachte: Jetzt geht der Vorhang auf für mich, die Bühne ist frei!»
Heute sitzt sie in ihrem Büro/Sprechzimmer, wo sich vor dem Fenster eines der schönsten Wahrzeichen der Schweiz erhebt: Der Grosse Mythen thront majestätisch hinter der Skyline von Brunnen und leuchtet an diesem Tag schneebedeckt vor blauem Himmel. Als fallführende Psychologin kann Sara Seichter sich diesen Ausblick aber nicht allzu oft gönnen, denn sie hat gut ausgefüllte Tage. Sie betreut Patient:innen während deren sechs- bis achtwöchigen Therapien in dem auf Burnout, Depressionen und Schlafstörungen spezialisierten Ameos Seeklinikum Brunnen. Die Klinik arbeitet mit einem ganzheitlichen Behandlungskonzept, das auch Kunsttherapie, traditionelle chinesische Medizin, Feldenkrais oder Bewegungsangebote umfasst. Als Psychologin betreut Sara Seichter ihre Patient:innen in wöchentlichen Einzelgesprächen, in Gruppengesprächen und in psychotherapeutischen Gruppen zu den Themen Stress Management und Angstregulation.
«Ich habe die Anstellung in der Ameos-Klinik direkt nach meinem Psychologie-Studium an der ZHAW bekommen», erzählt Sara Seichter. «Ich war eine sogenannte Passerellen-Studentin, die mit ihrem Vorstudium in Heilpädagogik direkt in den Masterstudiengang Psychologie einsteigen konnte.» Mit dem Studium an der ZHAW ist für die 50-Jährige ein lange gehegter Traum in Erfüllung gegangen. «Ich wusste schon als Kind, dass ich Psychologin oder Therapeutin werden möchte», erzählt sie. «Aufgrund der Studienvoraussetzungen habe ich mich in Deutschland für das Studium zur Sonder- und Heilpädagogin entschieden und tatsächlich über 20 Jahre in diesem Bereich gearbeitet.» Doch die schulische Umgebung war nicht wirklich der Ort, wo sie ihr Potenzial entfalten konnte. «Ich möchte die Menschen auf ihrem Weg begleiten, reife und selbstbewusste Persönlichkeiten zu werden. Das hatte im schulischen Umfeld zu wenig Platz für mich.»
Alles auf Anfang mit 44
Mit 44 Jahren noch einmal ganz neu anfangen, hat Sara Seichter viel Mut gekostet. Es lag nicht nur daran, dass es mit einem Studium finanziell eng werden könnte, hinzu kam, dass ihr Staatsexamen in Sonder- und Heilpädagogik von der ZHAW nicht als Bachelor-Äquivalent anerkannt wurde. «Für die Anerkennung konnten mir weder meine damalige Universität noch die zuständigen Stellen in der Schweiz weiterhelfen. Zum Glück zeigte sich die Verantwortliche an der ZHAW so unkompliziert und entschied pragmatisch, dass ich mich einfach bewerben könne.» Gesagt, getan – nach bestandener mündlicher und schriftlicher Prüfung konnte Sara Seichter im Herbst 2017 ihr abgekürztes Psychologie-Studium beginnen. «Ich habe die ZHAW von Anfang an als sehr flexibel und personenorientiert erlebt. Mir wurde das Gefühl vermittelt, dass den Verantwortlichen viel daran gelegen war, mich auszubilden und persönlich weiterzubringen.»
Und so stellte sie fest, dass sie mit viel weniger Geld auskommt, als sie gedacht hat. Und merkte, dass nicht nur ihre langjährige Berufserfahrung als Heilpädagogin in Deutschland und der Schweiz, sondern ihre generelle Lebenserfahrung hilfreiche Backgrounds für das Studium sind. «Da das Studium eine freiwillig gewählte Ausbildung war, habe ich einfach alles daran sehr geschätzt. Ich habe die meisten Aufgaben nicht als Belastung, sondern als positive Herausforderung wahrgenommen. Ich bin sehr gewachsen während dieser Zeit.»
Nicht nur in persönlicher Hinsicht, auch auf fachlicher Ebene fühlte sich Sara Seichter mehr als bereit, im Frühjahr 2023 ins Berufsleben einzusteigen. «Der Praxisbezug an der ZHAW ist von unschätzbarem Wert. Unsere Dozierenden kamen zum grössten Teil aus der Praxis und wir profitierten von zahlreichen therapie-bezogenen Veranstaltungen, zum Beispiel in den Bereichen Sucht, Schema- oder Psychotherapie. Wir hatten schon während des Studiums die Möglichkeit, mit Kolleg:innen von Mitstudierenden Patient:innen-Situationen zu üben und unsere Beratungskompetenzen auszuprobieren. Dadurch verminderten sich die Berührungsängste enorm.» Auch in den Bereichen Diagnostik und Berichtwesen erlangten Sara und ihre Mitstudierenden dank dem Praxisbezug schnell eigene Kompetenzen.
Perspektivenwechsel
An ihrem neuen Arbeitsplatz im Ameos Seeklinikum führt Sara Seichter heute bis zu fünf Einzelgespräche pro Tag, steht in regelmässigem Austausch mit anderen Therapeut:innen, bespricht mit der Stationsärztin und den jeweiligen Patient:innen die Medikation oder begutachtet mit der Kunst-Therapeutin die Bilder. Sie hat in ihrer Ausbildung den non-direktiven Weg als Auseinandersetzung mit dem Menschen kennengelernt und dass es in Ordnung ist, Fragen zu stellen, zuzuhören und nicht immer gleich eine Lösung zu präsentieren. «Ich kann mich voll und ganz den Themen meiner Patient:innen widmen. Ich finde es jedes Mal sehr berührend, wenn es ihnen gelingt, in die Wahrhaftigkeit einzusteigen. Wenn sie ihre Maske abnehmen und ehrlich sind zu sich, auch wenn es weh tut. Von dem Moment an können sie mit einer anderen Perspektive weitermachen.»
Auch für sie selbst hat sich die Perspektive geändert. Sie ist dort angekommen, wo sie sich bereits als Kind sah. Sie hat dazu finanzielle Einbussen in Kauf genommen, sie ist über sich selbst hinausgewachsen, indem sie für ihre Masterarbeit ein eigenes Forschungsthema ausgewählt und umgesetzt hat. «Wissenschaftliche Forschung, das hätte ich mir vorher nie zugetraut! Bei der Erarbeitung wurde ich sehr mitgetragen und mitberaten von der ZHAW.» Heute fühlt sie sich bestens geschult, wenn es um die Prüfung der Validität von Studien geht – ein weiterer nützlicher Praxisbezug für ihr Berufsleben. Neben den zahlreichen Hard Skills ist für Sara Seichter aber vor allem eines wichtig. «Die Auseinandersetzung mit den Inhalten, mit den Dozierenden, aber auch mit meinen Mitstudierenden, unsere gemeinsame Entwicklung haben mir viel gebracht. Ich habe endlich das Gefühl, am richtigen Ort angekommen zu sein.»
Text: Sibylle Ambs
Fotos: Markus Lamprecht