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Advanced Practice: Über Berufsgrenzen hinweg in der Schweiz etablieren

«Die Gesundheitsversorgung der Zukunft gestalten» – unter diesem Motto fand das schweizweit erste interprofessionelle Symposium zur Advanced Practice statt. 450 Fachpersonen nahmen am Online-Anlass teil, den das ZHAW-Departement Gesundheit zusammen mit Verbänden der Professionen Hebammen, Ergo- und Physiotherapie, Pflege und Ernährungsberatung organisiert hatte.

Das interprofessionelle Symposium zeigte: Die Gesundheitsberufe sind in der Umsetzung von Advanced Practice an ganz unterschiedlichen Punkten.

Sie ist eine der Hoffnungsträgerinnen, wenn es darum geht, die heutigen und künftigen Herausforderungen im Schweizer Gesundheitswesen zu bewältigen: Die Advanced Practice (AP), also erweiterte beziehungsweise vertiefte Rollen, neue Handlungsfelder und Verantwortlichkeiten für die Gesundheitsberufe. AP soll den Fachkräftemangel entschärfen, die Gesundheitsberufe attraktiver machen, der Fragmentierung und den steigenden Kosten im Gesundheitswesen entgegenwirken. Vor allem soll sie aber der immer komplexeren Gesundheitsversorgung unserer Gesellschaft gerecht werden. Doch wie lässt sich dem Konzept der AP in der ambulanten und stationären Versorgung zum Durchbruch verhelfen? Und wie lässt sich ein gemeinsames Verständnis darüber, was AP ist und was sie leisten kann, in den verschiedenen Gesundheitsberufen etablieren? Diesen und weiteren Fragen ging das schweizweit erste interprofessionelle Symposium zu Advanced Practice unter dem Titel «Die Gesundheitsversorgung der Zukunft gestalten» am Samstag 27. März nach. Über 450 Fachpersonen der Professionen Hebammen, Physio- und Ergotherapie, Pflege und Ernährungsberatung nahmen an dem Online-Anlass teil, den das ZHAW-Departement Gesundheit zusammen mit Berufsverbänden organisiert hatte. Der halbtägige Anlass teilte sich in einen gemeinsamen interprofessionellen Teil sowie je einen monoprofessionellen Teil für die einzelnen Gesundheitsberufe auf.

Potenzial in interprofessionellen Netzwerken

Zu Beginn des Symposiums hob José Santos, Leiter Kommunikation am ZHAW-Departement Gesundheit, in seiner Begrüssung hervor, dass AP in der Schweiz erst allmählich Fuss fasse. Und er stellte fest, dass das Konzept von selbst nicht die Herausforderungen im Gesundheitswesen bewältigen könne, «sondern nur Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen im Berufsfeld, weitsichtige Leute in der Gesundheitspolitik und engagierte Personen auf Seiten der Verwaltung und der Kostenträger».

Welches Potenzial Gesundheitsfachpersonen in einer AP-Rolle haben, um zur Bewältigung der Herausforderungen im Gesundheitswesen beizutragen, erläuterte Salome von Greyerz, Leiterin Abteilung Gesundheitsstrategien beim Bundesamt für Gesundheit BAG, in ihrer Keynote. Von Greyerz präsentierte den Teilnehmenden die Gesundheitsstrategie 2030, mit welcher der Bund in den nächsten Jahren das Gesundheitswesen fit machen will für eine alternde Gesellschaft, die Zunahme chronischer und nichtübertragbarer Krankheiten oder die Digitalisierung. Eine der vom Bund angestrebten Entwicklungen sei dabei die Bildung von Netzwerken zur koordinierten Versorgung, sagte von Greyerz. «Dabei schliessen sich Fachpersonen zu interprofessionellen Behandlungsteams zusammen und rechnen als neuer Leistungserbringer gemeinsam ab.» Solche Netzwerke seien die Zukunft der Versorgungsstruktur und Gesundheitsfachpersonen in AP-Rollen böten eine grosse Chance für deren Entwicklung. So könnten Advanced Practitioner unter anderem die interprofessionelle Zusammenarbeit fördern, die Entscheidungsfindung bei komplexen klinischen Situationen unterstützen oder therapeutische Angebote evidenzbasiert weiterentwickeln.

Bremsklötze im Gesetz

Nach dem Einblick in die Gesundheitsstrategie 2030 des Bundes wurde an einer Podiumsdiskussion mit je einer Vertreterin oder einem Vertreter der beteiligten Berufsverbände und der Haus- und Kinderärzte Schweiz der aktuelle Stand der AP in den einzelnen Berufen, ihr Potenzial sowie die Hürden, die ihrer weiteren Etablierung noch im Weg stehen, diskutiert. Die Tandemgespräche mit jeweils zwei Podiumsteilnehmenden sowie das anschliessende Gesamtpodium zeigten: Die Berufe stehen in der Entwicklung der AP an teils sehr unterschiedlichen Punkten. Während sich Pflegefachpersonen ab diesem Jahr über den Berufsverband als Advanced Practitioner registrieren und akkreditieren lassen können, steht die Ernährungsberatung noch ganz am Anfang und muss erst eine Definition für AP festlegen.

«Gesundheitsfachpersonen in AP-Rollen sind zentral, wollen wir auch in Zukunft in der ganzen Schweiz eine gute Versorgung gewährleisten.»

Roswitha Koch, Leiterin Bereich Pflegeentwicklung und Internationales, SBK

Gemeinsamkeiten zeigten sich jedoch bei den Erwartungen an die AP, aber auch bei den Hürden, die ihr in der Schweiz noch im Weg stehen. So teilten die Podiumsteilnehmenden die Ansicht, dass AP der teilweise starken Fragmentierung und den Lücken in der Versorgung entgegenwirken kann. Auch die Versorgungsqualität und Patientensicherheit kann AP verbessern oder helfen, Ressourcen effizienter zu nutzen. Auch dass damit die Karrieremöglichkeiten für Health Professionals erweitert und so die Gesundheitsberufe attraktiver werden, wurde am Podium als positiver Effekt der AP genannt. Mit Blick auf die Hürden wurde unter anderem das Krankenversicherungsgesetz (KVG) genannt, das verschiedene Bremsklötze beinhalte, welche die Etablierung der AP in der Schweiz verlangsamen. Auch die mangelnde oder schwierige Finanzierung von Pilotprojekten oder die bestehende Fragmentierung des Gesundheitswesens wurden von Podiumsteilnehmenden als Gründe genannt, weshalb AP vielerorts noch nicht so richtig Fahrt aufgenommen hat.

Einigkeit bei Potenzial und Hürden

Nicht zuletzt bestand auf dem Podium auch Einigkeit bezüglich der grundsätzlichen Definition von AP und den Anforderungen, um eine AP-Rolle einnehmen zu können. Advanced Practitioners sollten als erfahrene Fachleute dank vertieften (wissenschaftlichen) Kenntnissen in ihrem Fach- oder Spezialgebiet Aufgaben übernehmen, die über den klassischen Verantwortungsbereich hinausgehen. Sie sollten Fähigkeiten zur komplexen klinischen Entscheidungsfindung haben und dazu beitragen, die Berufspraxis evidenzbasiert weiterzuentwickeln. Für eine Registrierung als AP sollte eine Gesundheitsfachperson über einen Masterabschluss verfügen und in der klinischen Praxis in einer AP-Rolle tätig sein. Der Definition und den Anforderungen konnten sich die Podiumsteilnehmenden anschliessen – mit dem Hinweis, dass diese teils um berufsspezifische Komponenten ergänzt werden müssen. Zum Abschluss des interprofessionellen Teils fasste Moderator José Santos die «Hausaufgaben» zusammen, die anstehen, um die AP in der Schweiz voranzubringen: So sollten die Gesundheitsberufe etwa mit gesundheitsökonomischen Studien die Kosteneffektivität aufzeigen, welche die AP mit sich bringe, Lobbying auf politischer Ebene betreiben und für eine gemeinsame Definition und Etablierung der AP zusammenarbeiten.

«Haus- und Kinderärzte sind nicht mehr in der Lage, die Grundversorgung zu stemmen – wir müssen die Aufgaben besser verteilen.»

Philippe Luchsinger, Präsident mfe Haus- und Kinderärzte Schweiz

Stand der AP in den einzelnen Berufen

Im zweiten, monoprofessionellen Teil des Symposiums wurde das Thema aus Sicht der einzelnen Berufe vertiefter beleuchtet. Dabei wurden verschiedene Aspekte wie etwa der aktuelle Stand bei der berufsspezifischen Entwicklung der AP diskutiert, aber auch konkrete Beispiele bestehender AP-Rollen aus der Praxis präsentiert.

Ergotherapie

Im monoprofessionellen Teil der Ergotherapie referierten neben der EVS-Präsidentin Sandra Schneider die leitende Handtherapeutin des Kantonsspitals Winterthur Mel Eissens, die in England AP-Erfahrung gesammelte hatte, sowie David Gisi, Leiter Therapien und Rehabilitation am Kantonsspital Winterthur. Sie zeigten eindrücklich auf, inwieweit sich die Handtherapie als Feld für AP in der Ergotherapie eignet, aber auch welche Voraussetzungen seitens Organisation, TherapeutInnen und Abläufen für eine erfolgreiche Umsetzung erfüllt sein müssen. Mit Blick von «aussen» strich Daniel Rochat, Geschäftsleitungsmitglied der Swica in seinem Referat «AP in der Ergotherapie – ein gesunder Weg?» die positive Haltung «seiner» Krankenversicherung gegenüber der AP hervor und ermutigte dazu, die Kostenträger frühzeitig ins Boot zu holen. Die Referate und die anschliessende Diskussion machten es deutlich: AP in der Ergotherapie hat Potenzial. Es wird nun darum gehen, klare Profile herauszuarbeiten, aus den Erfahrungen erster bestehender APOT-Rollen zu lernen und Pilotprojekte zu unterstützen. Die rund 40 Teilnehmenden gaben zahlreiche Anregungen für diese weitere Entwicklung, die nun unter dem Lead des EVS weiter vorangetrieben wird.

«Eine Ergotherapeutin, die in einer AP-Rolle ein koordinierende Funktion übernimmt, könnte bei Entwicklungsauffälligkeiten von Kindern die Abklärungs- und Behandlungswege viel kürzer und schlanker machen.» 

Sandra Schneider, Präsidentin Ergotherapie-Verband Schweiz EVS

Ernährungsberatung

Im monoprofessionellen Teil der Ernährungsberatung wurde der Stand der Entwicklung von Advanced Practice Dietitian (APD) im In- und Ausland aufgezeigt: Während sich AP-Rollen für Ernährungsberaterinnen und -berater etwa in den USA, Kanada und Australien schon länger etabliert haben, steht man in der Schweiz diesbezüglich noch ganz am Anfang. Dennoch gibt es bereits vereinzelte Beispiele von APD, etwa am Kinderspital Zürich oder am Inselspital Bern, wie in den Referaten aufgezeigt wurde. Um die Entwicklung erweiterter Rollen weiter voranzutreiben, nutzte der Berufsverband SVDE den monoprofessionellen Teil des Symposiums gleich als Kick-off, um erste Überlegungen zur Definition und zur Implementierung von APD zur Diskussion zu stellen und den weiteren Fahrplan vorzustellen: Bis im März 2022 möchte der SVDE ein Arbeitspapier zu APD-Rollen erstellt haben, über das die Mitglieder nach Vernehmlassung und Bereinigung im Frühling 2023 abstimmen sollen.

«Mit AP werden die Karrieremöglichkeiten innerhalb der Gesundheitsberufe erweitert.»

Adrian Rufener,  Vizepräsident Schweizerischer Verband der Ernährungsberater/innen SVDE

Hebammen

Zum Einstieg zeigten Beatrice Friedli, Leiterin am ZHAW-Institut für Hebammen, und Andrea Weber-Käser, Geschäftsführerin Schweizerischer Hebammenverband SHV, den Stand der Advanced Midwifery Practice (AMP) in der Schweiz auf: Seit Ende 2019 arbeiten die Berufskonferenz Hebamme, die Fachhochschulen, der Hebammenverband und  Praxisvertreterinnen gemeinsam an der Entwicklung erweiterter Rollen. Ein Positionspapier mit einer Definition soll noch 2021 publiziert werden. Nach dem Einstiegsreferat wurde anhand von drei Beispielen dargestellt, wie unterschiedlich AMP-Rollen in der Praxis gestaltet werden können. Lena Suter, Hebammenexpertin am Inselspital Bern und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Berner Fachhochschule, präsentierte, wie sie am Inselspital eine AMP-Rolle implementiert hatte: Eine Hebamme mit vertieften Kenntnissen in perinataler psychischer Gesundheit, die Prävention, Screening, Diagnose und Behandlung bei Frauen mit psychischen Erkrankungen koordiniert. Elisabeth Kurth, unter anderem Geschäftsführerin von Familystart beider Basel und Lehrbeauftrage an der ZHAW, zeigte anhand des Projekts «Sorgsam – Support am Lebensstart» auf, welchen Nutzen eine AMP-Rolle bei einer freipraktizierenden Hebamme für vulnerable Familien mit sich bringt. Und Deirdre Daly, Assistant Professor für Midwifery am Trinity College Dublin in Irland, legte dar, wie die AMP-Rollen in ihrer Heimat entwickelt worden waren. 2020 waren in Irland 34 Hebammen als Advanced Practitioner in hebammengeleiteten Versorgungsmodellen und in Spezialgebieten wie z.B. Diabetes, Frauengesundheit oder perinatale mentale Gesundheit tätig.

«Ziel ist nicht, dass letztlich alle Gesundheitsfachpersonen als Advanced Practitioner arbeiten. So viele braucht es nicht. AP soll vor allem dort zum Einsatz kommen, wo in interprofessionellen Settings Lücken bestehen.»

Andrea Weber-Käser, Schweizerischer Hebammenverband SHV

Pflege

APN's werden behindert, wenn es keine Rollenklarheit, keine Reglementierung und keinen Titelschutz gibt. Darum widmete sich die Pflege im monoprofessionellen Teil der seit kurzem möglichen Registrierung als Advanced Practice Nurse auf der Plattform APN-CH. APN-CH-Präsidentin Yvonne Willems Cavalli erläuterte die Kriterien, die erfüllt sein müssen, um sich für den markenrechtlich geschützten Titel «Pflegeexperte/Pflegeexpertin APN-CH» zu registrieren.
Darüber hinaus wurde in drei Posterpräsentationen sowie zwei Referaten Praxisbeispiele mit AP-Bezug aufgezeigt, wie die Pflege durch aktive Gestaltung der eigenen Berufsrolle auf unterschiedlichen Ebenen als Berufsgruppe insgesamt in Bewegung geraten und die Entwicklung ihrer Rollen selber übernehmen kann. Weiter erklärte Mario Desment das Leadership Modell von Swiss Nurse Leaders und Katharina Fierz, Leiterin am ZHAW-Institut für Pflege, resümierte: «Die Beiträge verdeutlichten, welch wichtige Rolle Managementpersonen mit einer klaren Vision bei der Implementierung neuer Modelle zur Verbesserung der Betreuung von Patientinnen, Klienten und ihren Familien zukommt.»

Physiotherapie

Fabienne Lüthi, Projektleiterin Professionsentwicklung beim Berufsverband physioswiss, skizzierte zu Beginn die derzeitigen Bemühungen, Advanced Physiotherapy Practice (APP) in der Schweiz zu etablieren. Die IG Swiss APP, die physioswiss mitgegründet hat, habe dazu verschiedene Ziele definiert, sagte Lüthi: So solle APP in der Schweiz bekannt und anerkannt werden, eine spezifische Abgeltung für die Leistungen von AP-Practitioners entwickelt und die Reglementierung umgesetzt werden. Um diese Ziele zu erreichen, verfolge Swiss APP verschiedene Stossrichtungen, etwa die Förderung von Begleitforschung oder die Ausarbeitung von Reglementierungsmöglichkeiten. Irina Nast von der ZHAW-Forschungsstelle Physiotherapiewissenschaft stellte daraufhin den Stand des Forschungsprojekts «Entwicklung von APP-Modellen in der Schweiz» vor, in dem in einem nächsten Schritt spezifische APP-Modelle entwickelt und in Expertenworkshops validiert werden. Als konkretes Beispiel einer APP-Rolle schilderte Cristina Staub ihre Arbeit als Physiotherapeutin in der Schlafbehandlung. Als APP ist sie in der interprofessionellen Praxis, in der sie tätig ist, massgeblich an der Entscheidungsfindung über Untersuchungen und Massnahmen bei Schlafstörungen beteiligt.

«Durch den gezielten Einsatz von AP wird die Versorgung verbessert – und damit auch die Patientensicherheit und -zufriedenheit. Ausserdem kann sie dazu beitragen, Fehl-, Über- oder Unterversorgungen zu reduzieren.»

Mirjam Stauffer, Präsidentin Schweizer Physiotherapieverband physioswiss

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