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Arbeiten mit Jugendlichen: «Obdachlosigkeit kann zur Identität werden»

Travis Rindler leitet das Engagement Program von Daybreak in Dayton. Die Non-Profit-Organisation im US-Bundesstaat Ohio kümmert sich um obdachlose und vulnerable junge Menschen.

«Oft frage ich mich: Wie können Menschen derart übersehen werden vom System?»: Sozialarbeiter Travis Rindler. (Collage: Notice Design)

von Travis Rindler, aufgezeichnet von Regula Freuler

In einem unserer Aufenthaltsräume hängt ein Satz aus dem Buch «Der Zauberer von Oz» an der Wand: «Wahrer Mut ist, sich Gefahren zu stellen, selbst wenn man Angst hat.» Damit spielen wir auf die Abkürzung unserer Abteilung an: OZ. Das steht für Opportunity Zone. So nennen wir unser Engagement Center. Zugleich ist das Zitat ein Lebensmotto, das wir unseren Klient:innen vermitteln möchten. 

Das OZ ist Teil von Daybreak, einer 1975 in Dayton gegründeten Non-Profit-Organisation für obdachlose und vulnerable Jugendliche und junge Erwachsene. Im Gebäude nebenan befinden sich eine Notunterkunft und befristet bewohnbare Zimmer. Dort haben wir Programme für die Wohnungssuche nach dem Konzept Housing First, eine Abteilung für junge Menschen aus der LGBTQ+-Community und wir bieten psychologische Hilfe und Entzugstherapien an. Hier im Engagement Center fokussieren wir auf Ausbildung und Arbeitsintegration.

Manche waren noch nie im Kino

Ich arbeite seit fünf Jahren bei Daybreak. Die ersten drei Jahre war ich Fachperson für Arbeitsintegration, seit zwei Jahren leite ich das Engagement Program. Unter anderem schauen wir, dass unsere Klient:innen ihre Termine wahrnehmen. Wir organisieren Aktivitäten, bei denen sie gesund, alkohol- und drogenfrei ihre Zeit mit Peers verbringen können. Viele der jungen Menschen, die zu uns kommen, sind obdachlos.

Obdachlosigkeit ist eine Situation, die zur Identität werden Davor versuchen wir sie zu bewahren. Manche waren noch nie in einem Restaurant, im Kino oder an einem Baseball-Spiel. Wer im Überlebensmodus ist, denkt nicht an solche Vergnügungen, sondern daran, wo man die nächste Nacht verbringt und die nächste Mahlzeit bekommt. Wir besuchen mit ihnen auch die Job-Messen in Dayton, machen Betriebsbesichtigungen, gehen ins Museum. Manche Klient:innen kennen nichts ausser der Nachbarschaft, in der sie aufwuchsen. Sogar das Stadtzentrum ist für sie eine neue Welt – und dabei ist Dayton nicht einmal eine besonders grosse Stadt.

Das Problem ist der Rassismus

Was ich an meinem Job als Engagement Specialist mag: Ich bin oftmals der Erste, mit dem die Klient:innen zu tun haben, wenn sie hier reinkommen. Der Erste, dem sie ihre Geschichte erzählen. Und dann bin ich auch wie ein Telefonist, der unzählige Anrufe tätigt und sie mit jenen Leuten in Verbindung setzt, die sie in ihrer Situation benötigen.

Oft frage ich mich: Wie können Menschen derart übersehen werden vom System? Natürlich sind Armut, die Opioid-Epidemie und Vernachlässigung grosse Probleme. Aber das eigentliche Problem ist struktureller Art. In den 1950er-Jahren hätte man auf der Hauptstrasse eine Linie ziehen können: Auf der einen Seite lebten nur Weisse, auf der anderen nur People of Colour. Bis heute ist Dayton eine stark segregierte Stadt geblieben. Das hat massive Auswirkungen auf die Qualität der Schulen, die massgeblich von lokalen Steuergeldern finanziert werden.

Ursprünglich wollte ich Lehrer werden, aber ich mag das Oberstufenschulsystem in den USA nicht. Man bringt den Jugendlichen zwar Kernfächer wie Mathematik oder Englisch bei, aber fürs Leben lernen sie wenig, etwa wie man sein Geld verwaltet, wie man auf sich aufpasst. Wenn einem die Eltern das nicht mitgeben können, hat man später ein riesiges Problem. Da die meisten unserer Klient:innen fremdplatziert waren, sind sie stark davon betroffen. Ich verstehe mich als ihr Begleiter auf dem Weg, diese Dinge doch noch zu lernen.

Dieser Text entstand im Rahmen des Staff Mobility Program von Swissnex.