Architektur und Ethik: Für die Menschen bauen
Verblüffende Formen, gewagte Konstruktionen, schmucke Fassaden? Ein wirklich gutes Haus bietet mehr: Es übernimmt soziale Funktionen, ist Stadtreparatur und Gesellschaftskitt. So versucht es das Gebäude 141 der ZHAW.
Inhaltlich vollbringt das Gebäude 141, das derzeit am Lagerplatz in Winterthur entsteht, einen grossen Spagat. Unterschiedlicher könnten die Bedürfnisse der künftigen Nutzer kaum sein, die 2020 einziehen. Da ist die Genossenschaft «Zusammen_h_alt». Sie will hier nach jahrelangen Vorarbeiten ihr neues Modell altersgerechter Wohnformen für Menschen ab 45 verwirklichen – bunt durchmischt mit halböffentlichen Angeboten wie einem Café , Läden und Räumen fürs Kleingewerbe. Ganz andere Ansprüche stellt der zweite Nutzer, die ZHAW. Das unter Platznot leidende Departement Architektur, Gestaltung und Bauingenieurwesen erhält im Neubau eine Laborhalle für den Fachbereich Bauingenieure sowie verschiedene Hörsäle, Unterrichts- und Arbeitsräume.
Kleine kosmopolitische Stadt als Vorbild
Ein klarer Fall, eigentlich: zwei Funktionen, die man am besten in zwei getrennten Gebäudeteilen unterbringt. Nebeneinander oder übereinander angeordnet, mit separaten Zugängen. Schliesslich hat die Ausbildung von Bauingenieuren herzlich wenig mit visionärem, generationendurchlässigem Alterswohnen zu tun. Tatsächlich? Genau an diesem Punkt setzt das Projekt an, das sich im Wettbewerb der Stiftung Abendrot durchgesetzt hatte. Es stammt vom Winterthurer Büro Beat Rothen Architektur. «Wir fragten uns: Trifft diese Annahme wirklich zu?», erzählt Beat Rothen. Muss man das eine vom andern konsequent separieren? Die Antwort: Nein. Gibt es Bereiche, bei denen genau das Gegenteil zutrifft, wo also räumliche Überschneidungen mehr Potenzial freisetzen als eine Trennung? Durchaus, wie das Projekt zeigt.
Das Gebäude 141 nimmt sich eine Art kleine, kosmopolitische Stadt zum Vorbild. Es begnügt sich nicht mit einem Eingang für die Schule und einem zweiten Eingang für den Genossenschaftsbereich. Vielmehr kreuzen sich die Wege an den drei Haupteingängen. Natürlich gibt es Schlüssel und Zutrittssysteme mit Badge. «Doch alles ist räumlich miteinander verbunden», sagt Rothen, der auch als Dozent an der ZHAW tätig ist. Er geht davon aus, dass Studenten mal ein Atelier im Genossenschaftsbereich mieten und umgekehrt auch Leute aus dem Alterswohnbereich die eine oder andere Hochschulveranstaltung besuchen. In den Semesterferien bleibt das Haus belebt. «Das Café, das im Bereich der Genossenschaft entstehen soll, und die Mehrzweckräume sind ebenfalls eine Bereicherung für beide Parteien», hält er fest.
Zehn Prozent der Wohnfläche dienen allen
Vorn öffnet sich die Genossenschaft zur Tössfeldstrasse hin. Den Saal im Erdgeschoss kann voraussichtlich auch die Quartierbevölkerung für Veranstaltungen nutzen. Über eine Art innere Strasse flaniert man kaskadenartig in das Gebäude zur «Tätigkeitsplattform». Sie liegt im ersten und zweiten Obergeschoss über der grossen Laborhalle der Bauingenieure. Die Tätigkeitsplattform ist der Bereich, in dem die Genossenschaft Ateliers und Gewerberäume vermietet – natürlich auch an die eigenen Bewohner, die im Alter oder während einer Übergangsphase beruflich im selben Haus tätig sein wollen. Die meisten der 84 Wohnungen liegen darüber. Sie sind rund 40, 60 oder 80 Quadratmeter gross. Mehr braucht es nicht, mehr ergäbe zu hohe Mieten. Bei Bedarf bucht man einfach ein Gästezimmer hinzu. Die Wohnung gibt es in zwei Typen: offen im Loft-Stil oder unterteilt in einzelne Räume. Zehn Prozent der Wohnfläche dienen allen: Bibliothek, Sauna, drei Terrassen, ein Raum der Stille oder eine Küche mit Aktionsraum. «Kern der Idee ist eine architektonische und soziale Verbindung von gemeinsamen und privaten Lebensräumen», heisst es in der Charta der Genossenschaft Zusammen_h_alt, «die Realisierung wird von einem bewussten Umgang mit räumlichen und energetischen Ressourcen bestimmt.»
«Stil» als «Lüge»
Es galt für das Team um Beat und Birgit Rothen, die unterschiedlichen Ansprüche der Gebäudenutzer zu erforschen und sodann präzis zu strukturieren, um sie in gebauten Raum umzusetzen. Bauen ist eine soziale Aufgabe. Spätestens die 15. Architekturbiennale Venedig hat dies 2016 in Erinnerung gerufen. Der chilenische Kurator Alejandro Aravena rückte nicht spektakuläre Bauten in den Mittelpunkt, sondern das menschenwürdige Wohnen: Ziel muss sein, die Qualität der gebauten Umwelt und die Lebensqualität der Menschen zu verbessern, nicht das Ego von Architekten in Form zu giessen.
Schon Le Corbusier hatte Baukunst unumwunden zu einer Frage der Ethik gemacht. Sein Manifest «Vers une architecture» sprach 1923 vom «Stil» als «Lüge». Sein Konzept der «Machine à habiter» begründete der Architekt aus La Chaux-de-Fonds nicht zuletzt auch als moralisch gesund. Andere Vertreter der klassischen Moderne führten ebenso ethische Argumente für ihre konstruktiven und funktionellen Lösungen an. Und der Architekturkritiker Siegfried Giedion, der ab 1946 an der ETH Zürich lehrte, bezeichnete in seinem Bestseller «Raum, Zeit und Architektur» die moderne Architektur als grossen moralischen Kampf um die richtige Lösung für die Probleme der Zeit.
Nachhaltig bauen
Beat Rothen bevorzugt den Begriff des Nachdenkens: Nachdenken über Formen des Zusammenlebens und über Nachhaltigkeit. Im Resultat beeinflusst die soziale Relevanz eines Baus dessen Gestaltung: «Wir versuchen jeweils, ein dauerhaftes Gebäude zu konzipieren, das auch soziale Prozesse auslöst oder begleitet.» Für ihn ist klar: «Der Architekt ist nicht nur dem Bauherrn verpflichtet, sondern vor allem auch der Gesellschaft.» Weil die Ressourcen auf dieser Welt endlich sind, sei nachhaltiges Bauen geboten. Das heisst, langlebige Materialien einsetzen und die Umwelt beim Bauen möglichst wenig belasten, Unnötiges weglassen. Mit möglichst wenig Ressourcen eine eigene Haptik und Ausstrahlung entwickeln ist das Ziel. Recyclingbeton kommt zum Einsatz, weil die Zementherstellung viel Energie frisst. Und unnötige Anstriche lässt man weg, weil der Verputz allein völlig ausreicht. Erst wenn die Wand verschmutzt ist, wird der Maler Jahre später zum Roller greifen. Ein Haus hält hundert Jahre oder mehr, doch es muss sich veränderten Bedürfnissen anpassen können. Das bedeutet vorausdenken. Praktisch alle Leitungen im Gebäude 141 sind sichtbar und gut zugänglich. Wände in Leichtbauweise machen das Haus flexibel. So kann es sich bei Veränderungen anpassen und mitwachsen. Das Gebäude 141 ist auch ein soziales Experiment. Ob es gelingt, muss sich erst noch zeigen.
Hochschulmagazin ZHAW-Impact
«Ethik» lautet das Dossier-Thema der aktuellen Ausgabe des Hochschulmagazins ZHAW-Impact. Wir berichten über den Besuch des Dalai Lama an der ZHAW und seinen Appell, in der Bildung mehr Gewicht auf innere Werte zu legen. Wir zeigen welchen Stellenwert Ethik im Studium und in der Forschung an der ZHAW hat. Eine Themenauswahl: Medizinische Berufe zwischen Fürsorge und Patientenautonomie, zwischen Leben erhalten und Sterbefasten. Architektur zwischen Design und Stadtreparatur. Big Data zwischen fairen und diskriminierenden Algorithmen. Bei solchen Dilemmata kann Ethik helfen, diese einzuordnen, Handlungsmuster zu überdenken, um letztlich angemessene Entscheidungen treffen zu können.
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