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«Betreuende Angehörige sind eine vulnerable Gruppe»

Die ZHAW hat die Situation von pflegebedürftigen Personen und deren betreuenden Angehörigen in der Gemeinde Wallisellen untersucht. «Betreuende Angehörige leisten enorm viel, werden in ihrer Rolle aber kaum wahrgenommen», sagt Projektmitarbeiterin Franzisca Domeisen Benedetti und erzählt, was es braucht, um die aktuellen Verhältnisse zu verbessern.

Mit welchen Herausforderungen sind Menschen konfrontiert, die ihre Angehörigen betreuen oder pflegen?

Franzisca Domeisen Benedetti: Es beginnt schon damit, dass diese grosse Gruppe – acht Prozent der Schweizer Bevölkerung betreuen derzeit ihre Angehörigen – gar nicht als solche wahrgenommen wird.

Wie meinen Sie das?

Wenn ein Paar Kinder bekommt, ist es automatisch in der Rolle der Eltern. Wenn aber zum Beispiel der Sohn seine betagte Mutter pflegt, nimmt ihn die Gesellschaft nicht unbedingt in der Rolle des betreuenden Angehörigen wahr. Und er sich selbst auch nicht unbedingt. 

Woran liegt das?

Betreuende Angehörige haben immer mehrere Rollen gleichzeitig und erledigen zig Aufgaben parallel. Der Sohn ist meist auch noch Lebenspartner, Vater oder Grossvater und beruflich wahrscheinlich stark engagiert. Neben all diesen Verpflichtungen ist es schwierig, sich auch noch als betreuender Angehöriger zu identifizieren. Ausserdem kommt diese Rolle nicht über Nacht wie jene der Eltern, sondern schleichend und wird über die Jahre immer intensiver.

Welche Aufgaben übernehmen betreuende Angehörige am häufigsten?

Sehr oft sind es administrative und organisatorische Aufgaben. Am Anfang unterstützen sie vielleicht nur bei Zahlungen und Formularen, später machen sie immer öfter auch die Einkäufe oder helfen im Haushalt mit, irgendwann müssen sie dann all die Formalitäten rund um die Pflege organisieren und immer wieder kontrollieren, dass im Alltag auch alles klappt. Das ist viel und kann sehr belastend sein, so dass betreuende Angehörige immer wieder an ihre Grenzen stossen oder gar ausbrennen, weil sie sich zu viel zumuten.  

Die ZHAW hat eine Umfrage zur «Bedarfssituation pflegebedürftiger Personen und deren betreuenden Angehörigen in der Gemeinde Wallisellen» durchgeführt. Welche Situation haben Sie dort angetroffen?

Auf den ersten Blick sah es so aus, als wäre die Welt in Wallisellen noch in Ordnung. Bei unserer Umfrage gaben 40 Prozent der betreuenden Angehörigen an, sich rechtzeitig Unterstützung zu holen, wenn die Belastung zu gross wird. Gut 70 Prozent fühlten sich in ihrer betreuenden Rolle «eher zufrieden» bis «zufrieden» und auch ihr eigenes Wohlbefinden schätzten sie als sehr hoch ein.

Und auf den zweiten Blick?

Für die Studie haben wir auch mit der Beratungsstelle LUNAplus für Senior:innen gesprochen und – wie eigentlich erwartet – festgestellt, dass unsere Ergebnisse nicht unbedingt mit ihren Alltagserfahrungen übereinstimmen. Die LUNAplus-Mitarbeitenden treffen viele ältere Ehepaare in schwierigen Situationen an, die physisch und psychisch am Anschlag sind.

Weshalb hat Sie diese Diskrepanz nicht überrascht?

Einerseits haben 90 Prozent der angefragten Personen unseren Fragebogen nicht retourniert. Darunter werden viele sein, die derart eingespannt sind, dass sie eben keine Zeit hatten, den Fragebogen auszufüllen. Sprich: Wir haben viele Betroffene, die überlastet sind und Unterstützung bräuchten, gar nicht erreicht. Und andererseits antwortet man bei Umfragen oft so, wie man glaubt, dass dies sozial erwünscht ist, in diesem Fall bedeutet es, dass man die Situation im Griff hat.

Nichtsdestotrotz hat ein Drittel der betreuenden Angehörigen angegeben, dass sie unter Stress und Ängsten leiden. Wie lässt sich ihre Situation verbessern?

Erst einmal ist es wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass nicht nur die hilfsbedürftige Person, sondern auch die betreuenden Angehörigen eine vulnerable Gruppe sind. Diese Realität ist in vielen Köpfen noch nicht präsent. Kommt hinzu, dass falsche Anerkennung innerhalb der Familie die betreuenden Angehörigen unter Umständen zusätzlich unter Druck setzen kann.

Wie das?

Wenn zum Beispiel der Bruder seine Schwester dafür lobt, dass sie die Betreuung der Mutter so toll hinkriegt, wie er es nie könnte. Diese Art von Bewunderung kann ein falsches Signal sein und die Belastung noch verstärken, weil sich die Schwester dann noch weniger traut, sich selbst und ihrem Umfeld einzugestehen, dass ihr das Ganze vielleicht zu viel ist und sie mehr Zeit für sich bräuchte.

Was kann die Gemeinde Wallisellen tun, um die betreuenden Angehörigen zu entlasten?

Einerseits sollte die Bevölkerung für die eben besprochenen Themen stärker sensibilisiert werden. Anderseits sind öffentliche Wertschätzung und Sichtbarkeit wichtig. Wallisellen plant zum Beispiel, Frühstückstreffs für betreuende Angehörige anzubieten, bei denen sie die Möglichkeit haben, sich auszutauschen. Gleichzeitig gilt es, bereits bestehende Entlastungangebote der Gemeinde wie Tages- oder Nachtzentren noch bekannter zu machen und vor allem auch das Vertrauen in diese Angebote zu stärken.

Sind denn Angehörige prinzipiell misstrauisch?

Sie haben jedenfalls Skrupel, pflegebedürftige Verwandte Fremden zu überlassen, wenn sie nicht sicher sind, dass diese dort gut aufgehoben sind. Das ist auch einer der Gründe, weshalb sie lieber zu Hause bei ihren Angehörigen bleiben, anstatt sich eine Auszeit mit Freunden oder Gleichgesinnten zu gönnen. In Wallisellen gibt es bereits ein gutes und breites Angebot, allerdings muss die Gemeinde noch besser aufzeigen, dass es sowohl für die Betreuenden als auch für die Betreuten ein Gewinn ist, wenn sie für ein paar Stunden in der Woche die Dienste des Tageszentrums in Anspruch nehmen.  

Welche Massnahmen braucht es längerfristig?

Derzeit macht praktisch jede Gemeinde eigene Angebote fürs Alter und oft weiss man nicht genau, was die Nachbargemeinde anbietet. Das ist nicht sinnvoll, denn die Betreuungsarrangements machen nicht an der Gemeindegrenze halt. Oft leben zum Beispiel die betreuenden Kinder nicht am selben Ort wie ihre betagten Eltern, deshalb braucht es nationale Strukturen. Hier gesamtschweizerische Lösungen zu finden, ist ein grosses Thema, das uns noch viele Jahre beschäftigen wird.

Die wichtigsten Ergebnisse und Handlungsempfehlungen:

Die Gemeinde Wallisellen hat sich zum Ziel gesetzt, die Situation im Alter für die Zukunft neu auszurichten, und die ZHAW beauftragt, eine Analyse der «Bedarfssituation pflegebedürftiger Personen sowie deren betreuender und pflegender Angehöriger» durchzuführen. An der Umfrage haben 322 Personen teilgenommen, 34% waren betreuende Angehörige. Die Ergebnisse aus Wallisellen stützen die Resultate der nationalen BAG-Befragung «Bedürfnisse und Bedarf von betreuenden Angehörigen nach Unterstützung und Entlastung» aus dem Jahr 2019.

  • Soziodemografische Situation in Wallisellen: Betreuende Angehörige sind meist verheiratete, mit dem Partner lebende Frauen im höheren Erwerbsalter, durchschnittlich 62-jährig. Am häufigsten kümmern sich betreuende Angehörige um die Eltern und am zweithäufigsten um die Lebenspartner:innen. Mehr als die Hälfte ist Voll- oder Teilzeit erwerbstätig. Durchschnittlich betreuen sie die pflegebedürftige Person 11 Stunden pro Woche. Etwa 40% von ihnen nehmen die Spitex nie in Anspruch. Hier ist es wichtig zu beobachten, ob Erwerbstätigkeit und Betreuungsaufgaben vereinbart werden können und welche Entlastungsangebote zur Verfügung gestellt werden sollten.
  • Distance caregiving: Fast 50% der Personen, die aktuell jemanden betreuen, geben an, dass die pflegebedürftige Person nicht in Wallisellen lebt. Diese Zahlen zeigen, dass «Distance caregiving» auch in Wallisellen ein grosses Thema ist, das beachtet werden muss, wenn man zukunftsorientierte Lösungen fürs Alter anbieten will.
  • Wahrnehmung der Betreuungsrolle: Die betreuenden Personen bewerten ihr Wohlbefinden durchschnittlich als recht hoch, die Betreuungssituation als mittelmässig belastend. Sie geben aber auch an, dass sie dadurch weniger Zeit für sich selbst haben und ihnen die eigene physische und psychische Gesundheit Probleme verursacht. Das heisst, auch hochmotivierte und belastbare betreuende Angehörige können in eine Situation kommen, in der sie Unterstützung benötigen. Dann sollten sie Instrumente zur Verfügung gestellt bekommen, mit denen sie sich selbst reflektieren können.
  • Empfehlungen für Gemeindeangebote: Zum Beispiel Schulungen und Infoveranstaltungen für betreuende Angehörige, um ihr Selbstmanagement zu stärken und sich untereinander auszutauschen. Sensibilisierung bezüglich des Themas und Wertschätzung in der Öffentlichkeit mit Vorträgen oder Veranstaltungen, die aufzeigen, dass Betreuung und Pflege im Alter alle betrifft.