Die Schweiz auf Drogen: Grenzen der institutionellen Suchthilfe
Als Mitte der 1980er-Jahre der Grundsatz der Schadensminderung in die Drogenpolitik eingeführt wurde, spotteten manche über die «Sozialchilbi» der freiwilligen Helfer:innen. Tatsache ist: Sie haben einen wichtigen Beitrag zur Vier-Säulen-Politik geleistet.

von Michael Herzig
Auch wenn gegen Ende des Jahrhunderts die schwerwiegendsten Kollateralschäden der Drogenprohibition beseitigt waren, gab es immer noch Menschen, die das System sprengten. «Ich war 1997 in meiner ersten Therapie», erzählt ein ehemaliger Drogenabhängiger. Zu diesem Zeitpunkt war er rund fünfzehn Jahre auf Drogen gewesen. Er hatte mit vierzehn begonnen. Die Lehre hatte er abgebrochen. Trotz seines Drogenkonsums war er lange berufstätig. Heroin und Kokain finanzierte er sich als Cannabisdealer. Irgendwann kam dann aber doch der Totalabsturz: Kündigung, Wohnungsverlust, Trennung.
Nun war er ausgebrannt und übernachtete im Wald. Um ein paar Gramm abzubekommen, vermittelte er einem Drogenhändler Kundschaft. Er war erschöpft. Er klopfte an die Tür einer sozialtherapeutischen Einrichtung. «Man hat diese Eintrittsgespräche. Da sitzt dann der Oberkatholik und sagt: ‹Jetzt ist es Zeit, dass ich dir helfe, mit Fixen aufzuhören.› Dabei habe ich von Anfang an gesagt, dass ich gar nicht aufhören wollte. Aber es war eine gute Zeit, um zur Ruhe zu kommen.» Nachdem er zum vierten Mal beim Drogenkonsum erwischt worden war, stand er wieder auf der Strasse.
Abbruch und Absturz
In der heroingestützten Behandlung hielt er es ebenfalls nicht lange aus. Nachdem er sowohl die abstinenzorientierte Therapie als auch die heroingestützte Behandlung abgebrochen hatte, stieg der befragte Drogenabhängige zu Beginn des neuen Jahrtausends aus. Mit allen Höhen und Tiefen, die dies mit sich bringen kann: mit einer Phase auf Methadon, das er nach einem Jahr schrittweise abbaute, mit einer mehrjährigen Ausbildung, mit einer vorübergehenden Suchtverlagerung in den Alkohol, mit einer jahrelangen Lohnpfändung, weil er von alten Schulden eingeholt wurde, und mit einer Psychotherapie, nachdem er die eigentliche Abstinenzbehandlung längst abgeschlossen hatte.
Begleitet wurde dieser Mann über die gesamte Zeit von der Gründerin der Interessengemeinschaft IG Sozialhilfe, die es sich in den Neunzigerjahren zum Ziel gemacht hatte, jene Menschen aufzufangen, die aus dem System herausfielen. «Das war für diese Menschen alles viel zu hochstrukturiert. Auch die heroingestützte Behandlung. Allein schon die Öffnungszeiten. Die Gespräche mit den Sozis sowieso. Und die Tatsache, dass kein Kokain verschrieben wurde, sondern nur Heroin. Diese Einrichtungen waren zwar die niederschwelligsten, die es gab, aber für diese Menschen eben doch nicht niederschwellig genug.»
Buch und Vernissage
Michael Herzig ist seit 2015 Dozent an der ZHAW Soziale Arbeit und unterrichtet Sozialmanagement. Zuvor hat er 20 Jahre zuerst als Drogenbeauftragter der Stadt Zürich gearbeitet und leitete später die städtische Drogenhilfe. Er ist Co-Autor und Co-Herausgeber des Buches «Die Schweiz auf Drogen. Szenen, Politik und Suchthilfe 1965 – 2022» (Chronos-Verlag), aus dem dieser Textauszug stammt.
Am 31. Oktober 2022 findet im Schweizerischen Sozialarchiv in Zürich die Buchvernissage in Anwesenheit der Autoren sowie von Felix Gutzwiller (ehemaliger Ständerat) und Peter J. Grob (ehemaliger Leiter der Klinischen Immunologie am Universitätsspital Zürich) statt. Lesung mit Karin Pfammatter (Schauspielhaus Zürich). Podiumsdiskussion mit Andreas Hüttenmoser (Peer-Arbeiter, ARUD Zürich), Margreth Meier (Betriebsleiterin Ambulatorium Neumühle Chur) und Eva Polli (ehemalige Gassenarbeiterin). Moderation: Regula Freuler (ZHAW).
Die Suche nach Struktur
Branka Goldstein arbeitete am Platzspitz für Zipp-Aids und war vom Schweizerischen Roten Kreuz angestellt. Ausserhalb der Arbeitszeit leistete sie auf eigene Rechnung Gassenarbeit. Während der offenen Drogenszene am Letten gründete sie 1994 die IG Sozialhilfe. Dafür sei ausschlaggebend gewesen, dass sie «eine extreme Unterversorgung» festgestellt habe für die marginalisiertesten Menschen unter den Drogenabhängigen. Goldsteins Mission: «Ein Dampfschiff sein für Leute auf der Gasse. […] Die IG war für die abgestürzten, die kaputtesten Gassenleute da.»
Damit sie diese Menschen erreichte, befolgte sie einfache Prinzipien: Nie Drogen in die Hand nehmen, keine Akten führen, absolutes Schweigen gegenüber Dritten. Ansonsten tat sie, was es brauchte, um ihren Klient:innen einen Halt zu geben: nächtelange Telefongespräche, Geldverwaltung, Beistandschaften, Begleitungen zu Arztterminen. Sie klopfte bei Ämtern auf den Tisch, mietete Wohnungen, organisierte Haushalthilfen, schrieb Gesuche für die Finanzierung von Ausbildungsplätzen. Es gab wenig, was sie erschüttern konnte. Ihre Klient:innen hatten Traumatisches erlebt, häufig Gewalt und sexuelle Ausbeutung. Alle waren Heimkinder, ausserdem Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen oder des gegen die jenische Bevölkerung gerichteten Programms «Kinder der Landstrasse» von Pro Juventute. Das war einer der Gründe, weshalb es in den Institutionen der Suchthilfe nicht funktionierte: Sie waren den Einrichtungen zu ähnlich, in denen diese Menschen traumatisiert worden waren.
Hilfe als distanzlos kritisiert
Goldstein nennt ihren Ansatz «matrizentristische Betreuung», was wörtlich gemeint ist. Das findet sich in keinem Lehrbuch. Goldstein hat sich ihre Methode selbst erarbeitet und sie im Rahmen einer Diplomarbeit an einer höheren Fachschule konzeptualisiert. Vertreter:innen der Sozialarbeitslehre rümpfen die Nase. Goldsteins Arbeitsweise hält der akademischen Lehre nicht stand, gilt als distanzlos. Dessen ungeachtet hat sie ihren Beitrag zur Überwindung des drogenpolitischen Desasters geleistet. Zur Anerkennung erhielt sie 1996, im UNO-Jahr der Armut, den Ida-Somazzi-Preis. Er wird seit 1966 für herausragende Leistungen in der Frauenförderung verliehen. Das Grusswort sprach die Zürcher Sozialvorsteherin Monika Stocker, nicht ohne zu unterstreichen, dass man Goldsteins Tätigkeit als Selbsthilfe verstehen müsse und nicht als professionelle Sozialarbeit.
Schweizweites Engagement
Auch in anderen Städten gab es zivilgesellschaftliches Engagement ausserhalb der institutionellen Suchthilfe. In Biel gründeten drei Frauen in den frühen Neunzigerjahren den Verein Gassenküche, unter ihnen Anet Suri. Anlass waren finanzielle Kürzungen bei der Drogenberatungsstelle Drop-in. Dort hatte Anet gearbeitet. Es war ihr Einstieg in eine soziale Tätigkeit gewesen. Sie lebte damals und lebt heute noch in der Punkszene. Drogenkonsum war alltäglich, eine Motivation für ihr Engagement. Finanziert wurde der Verein Gassenküche mit Spenden. «Wir haben Nachmittage lang Adressen im Telefonbuch gesucht und entsprechende Personen angeschrieben.»
Öffentliche Beiträge wurden erst Jahre später beantragt und noch später bewilligt. «Sie dachten, diese Punks schaffen dass doch eh nicht.» Einen Lohn gab es kaum. «Manchmal haben wir uns die Tageseinnahme aufgeteilt. Zwanzig Franken durch zwei ergab zehn pro Person.» Ein Engagement am Rand der Selbstausbeutung. «Einige von uns haben ein Burnout erlebt. […] Wenn du verantwortungsbewusst bist und in einem selbst verwalteten Team arbeitest, lädst du dir Dinge auf, die du gar nicht bemerkst.» Mit der Zeit und mit der Erfahrung pendelte sich nicht nur die innere Balance ein, das methodische Arbeiten verfestigte sich ebenfalls. Und auch in Biel gab es späte Anerkennung: 2012 wurde die Gassenküche zur «Bielerin des Jahres» gewählt. Das Preisgeld: 5000 Franken. «Heute ist die Gassenküche eine anerkannte, steuerbefreite Institution und kann Löhne zahlen. Finanziert werden wir immer noch mit Spenden.»
Lange wenig Anerkennung
Wegen der offenen Drogenszenen wurden pragmatische Interventionen mehrheitsfähig. Das war der Beginn der Schadensminderung («harm reduction»), die einen bedingungslosen Zugang zu sozialer und medizinischer Grundversorgung propagiert. Dies ging nicht ohne zivilgesellschaftliches Engagement. In den Anfängen machten sich erfahrene Gassenarbeiter:innen über diese «Sozialchilbi» lustig. Die damit gemeinten Helfer:innen merkten, dass man auf sie herabschaute. Sofern die Gassenarbeiter:innen kein Diplom hatten, erfüllten sie ironischerweise die formalen Professionalitätsanforderungen aber genauso wenig wie die Freiwilligen.
Letztlich entwickelte sich durch die Arbeit mit der Drogenszene eine Fachlichkeit, die lange nicht als solche anerkannt wurde. In den Worten eines Basler Gassenarbeiters: «Unsere Gesellschaft kann es sich nicht länger leisten, die Kreativität und Kompetenz, die von vielen Fachleuten in die Drogenarbeit eingebracht wird, einfach zu ignorieren. Diesbezüglich geht es uns ähnlich wie Indianerstämmen, die ja auch die besten Leute zur Jagd geschickt haben, da sie sonst wohl verhungert wären.»
Frauen als Pionier:innen
Mit dem Einsatz für Drogenabhängige einen vergleichbar hohen sozialen Status wie Jäger:innen in einer auf Selbstversorgung ausgerichteten Gesellschaft zu erreichen, war ein hochgestecktes Ziel. In der Realität verlief die Entwicklung eher umgekehrt: Je gravierender das Problem, umso tiefer die Reputation derjenigen, die es zu lösen versuchten. Die wachsende Präsenz von Frauen in der Suchthilfe dürfte diesen Trend beschleunigt haben.
Nichtsdestotrotz wurde hier Pionierarbeit geleistet, was Politik und Gesellschaft mit dem einen oder anderen Preis honorierten, wie im Fall von Martine Monnat, Branka Goldstein und der Bieler Gassenküche. Meistens erst dann, als mit einer solchen Geste kein politischer Konflikt mehr riskiert wurde.