Forschung inmitten von Corona-Diskursen
Die COVID-19-Pandemie verändert nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die angewandte Forschung. Wer jetzt Forschungsfragen entwickelt, wer einen Forschungsantrag stellt oder in Beratungs- und Entwicklungsaufträgen mit dem Umbruch in Gesellschaft und Organisationen konfrontiert wird, steht vor einer Herausforderung. Ein von ZHAW digital gefördertes Projekt des Departements Angewandte Linguistik leistet hier Unterstützung.
«Sprachgebrauch beeinflusst die öffentliche Wahrnehmung entscheidend», sagt Julia Krasselt, Sprachwissenschaftlerin und Diskursforscherin. Sie gehört zusammen mit Philipp Dreesen, Cerstin Mahlow und Peter Stücheli-Herlach zum Kernteam des «Digital Discourses Lab», das am Departement Angewandte Linguistik kurz vor der Gründung steht. Unter Diskursen versteht das Team ein Geflecht aus öffentlichen sprachlichen Äusserungen verschiedener Akteure zu einem bestimmten Thema. An dessen Mustern müssen wir uns unweigerlich orientieren, wenn wir selber verstanden werden wollen. Das Lab bündelt die Arbeit, die in verschiedenen Forschungsgruppen am Departement seit Jahren geleistet wird und führt diese fort. Diskurse über die Energiewende, über Antibiotika, über Sozialhilfe und Geothermie wurden schon erforscht. Derzeit steht der Corona-Diskurs im Fokus.
Digitale Analyse von Sprachdaten
«Wissenschaftliche Aussagen werden über Massenmedien verbreitet, politische Stellungnahmen und behördliche Massnahmen treffen auf die Argumente der Wirtschaft. Zivilgesellschaftliche Organisationen und Bewegungen besetzen einzelne Themenfelder und Forderungen», erklärt Julia Krasselt. «Aus alle dem entwickelt sich ein öffentlicher ‘Corona-Diskurs’ und ein jeweils wandelbarer ‘common sense’ über die Pandemie: Geteiltes Wissen, das uns prägt und auf Organisationen und Management-Teams handlungsleitend wirkt.» Digitale Analysen von Corona-Diskursen seien deshalb wichtige Bausteine für anwendungsbezogene Forschungs-, Entwicklungs- und Beratungsprojekte der ZHAW. «Sie ermöglichen Forschenden unterschiedlicher Disziplinen, die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie zu überblicken und einzuordnen, um zielführende Forschungsfragen zu COVID-19 entwickeln und bearbeiten zu können», sagt Julia Krasselt.
Textkorpus mit 40'000 Texten
Die empirische Basis für die Analysen bildet die ZHAW-eigene Datenressource «Swiss-AL-Corona-C». Das digitale Textkorpus besteht aus Texten von journalistischen Medien sowie Organisationen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft (d.h. von Vertreterorganisationen für spezifische gesellschaftliche Gruppen, Kirchen, Sozialverbänden usw.). Insgesamt umfasst es rund 20 Mio. Wörter in ca. 40’000 Texten aus 220 Quellen und ist somit die wohl grösste Textsammlung zu Corona in der Schweiz.
Forschungsrelevante Erkenntnisse generieren
Um Forschungs- und Beratungsteams der ZHAW diese wertvollen Daten und daraus folgende Erkenntnisse zugänglich zu machen, wurde die «Digitale Transfer-Plattform für COVID-19-Forschung» lanciert. In Workshops unterstützt das Projektteam Interessierte dabei, einen Überblick über die Dynamik, über Wortgebrauch und Themenfelder sowie über Diskursnetzwerke zu gewinnen. Dabei wird datengestützt und datengeleitet vorgegangen sowie auf das jeweilige Forschungsinteresse fokussiert. So ermöglichen die Workshops erste Schnellanalysen, valide Interpretationen und eine Anwendung in der Forschungs- und Beratungspraxis. Dabei gehe es nicht darum, die Workshopteilnehmenden zu Experten der Diskurslinguistik zu machen, sondern darum Forschenden aus anderen Disziplinen die Ergebnisse aus der Diskurslinguistik zugänglich zu machen. «Wir erklären die Daten so, dass sie auch für Forschungsprojekte in anderen Disziplinen genutzt werden können», sagt Julia Krasselt. Ein weiteres Ziel sei es, bei der Entwicklung von Forschungsfragen über COVID-19 und dessen Auswirkungen zu unterstützen: «Mit Hilfe der Diskurslinguistik entdecken wir Fragen, die man auf den ersten Blick nicht erwarten würde, die aber äusserst relevant sein können.»