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Gebt den Kindern eine Stimme

Wer die Rechte von Kindern vertritt, benötigt ein interdisziplinäres Profil. Eine neue Weiterbildung vereint das erforderliche Wissen aus Sozialer Arbeit, Psychologie, Pädagogik und juristischen Kenntnissen.

Von Daniela Reimer und Gisela Kilde

Die Diskussionen zogen sich über Jahrzehnte hin, mancher Anlauf war zuvor gescheitert, doch am Ende war der Entscheid einstimmig: Am 20. November 1989 nahm die Vollversammlung der UNO die Kinderrechtskonvention an. Mit der Konvention und den nachfolgenden Fakultativprotokollen wurden die Rechte der Kinder fixiert. Nie mehr, so der Wille der Staatengemeinschaft, sollten Erwachsene über sie verfügen dürfen, als seien sie Objekte. 1997 hat auch die Schweiz die Kinderrechtskonvention ratifiziert.

In Artikel 12 wird die Mitwirkung der Kinder in Gerichts- und Verwaltungsverfahren geregelt. Auch in diesen sollte da Kind eine Stimme haben. «Die Vertragsstaaten», heisst es, «sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äussern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife.» 

Es herrscht Verbesserungspotenzial

Darum soll das Kind in allen Gerichts- und Verwaltungsverfahren, die es betreffen, die Möglichkeit haben, mithilfe einer Vertretung «gehört zu werden». Denn wenn Kinder sich einbringen können, werden nicht nur ihre Rechte besser gewahrt; es zeigt sich auch, dass Entscheide auf einer solchen Grundlage tragfähiger sind und letztlich von allen besser akzeptiert werden. Darüber herrscht heute gesellschaftlicher Konsens. Doch wie schafft man es, den Kindern wirklich eine Stimme zu geben, die einen Unterschied machen kann?  

Das ist eine Frage, die auch Sozialarbeitende beschäftigen muss. Denn die Forschung zeigt, dass in der Schweiz noch Verbesserungspotenzial herrscht. Kinder berichten meist von sehr eingeschränkten Partizipationserfahrungen, wie zuletzt im nationalen Projekt «Pflegekinder – next generation» der Palatin-Stiftung.

Methoden und Strategien gefragt

Gefragt sind Methoden und Strategien, Kindern in allen rechtlichen Verfahren nicht nur ihr formales Recht auf Gehör zu sichern, sondern sie dazu zu bewegen, dass sie sich mit ihren Wünschen, Sorgen und Erwartungen auch offen einbringen.

Sie sollen als handelnde Personen am Verfahren teilnehmen und dieses mitbestimmen können. Bei Fachpersonen, die Kinder auf diesem Weg begleiten, reichen rechtliche Kenntnisse allein nicht aus. Es braucht ein breites interdisziplinäres Wissen von der Entwicklungspsychologie bis zum Konfliktmanagement. Nur so können Kinder auch wirklich partizipieren.

Stufen der Partizipation

Doch was bedeutet das überhaupt: Partizipation? In der Theorie werden mehrere Partizipationsstufen unterschieden. Zur Diskussion der Wirksamkeit fand das achtstufige Modell von Sherry R. Arnstein (1969), das Kerstin Petersen für die Jugendhilfe adaptierte (1999), weite Verbreitung.

Laut diesem Modell reicht es nicht aus, dass das Kind Informationen erhält, angehört und in den Prozess einbezogen wird. Kinder müssen auch faktisch mitbestimmen können und teilweise sogar Entscheidungskompetenz und -macht haben. Anhörungsrechte in Rechtsverfahren stellen deshalb nur Vorstufen der Partizipation dar.

Kann das Kind selbstständig Themen in ein Kindesschutzverfahren einbringen, sei es als selbstständig handelnde Partei oder während einer Anhörung, und wird seine Meinung tatsächlich einbezogen und berücksichtigt, findet echte Partizipation statt. Ist ein Kind durch eine qualifizierte Verfahrensbeistandschaft begleitet, wie es etwa im Zivilgesetzbuch unter Artikel314abis festgehalten wird, können in Kindesschutzverfahren alle Stufen der Partizipation erreicht werden.

Rechtsvertretung im Einsatz

Echte Partizipation erreichen Kinderanwaltschaft, Verfahrensbeistandschaft, Kindesvertretung oder Rechtsvertretung – alle diese Begriffe umschreiben die gleiche Funktion: Kinder kindgerecht und entwicklungsadäquat über Rechte und Verfahrensschritte informieren; sie in ihrem Meinungsbildungsprozess begleiten; den Kindeswillen ermitteln und vor Behörden und Gerichten vertreten.

Manche Rechtsverfahren sehen ausdrücklich eine Rechtsvertretung für das Kind vor. Sowohl im zivilrechtlichen Kindesschutz, im Adoptionsverfahren, in eherechtlichen, ausländerrechtlichen oder strafrechtlichen Verfahren, aber auch bei internationalen Kindsrückführungsverfahren sind Rechtsvertretungen wichtige Instrumente zur Verwirklichung der Partizipation des Kindes. Wenn also eine Kindesschutzbehörde erwägt, ob sie ein Kind aus der häuslichen Gemeinschaft der Eltern herausnehmen und in einer Pflegefamilie oder einer Institution unterbringen will, kann sie ihm eine Rechtsvertretung zur Seite stellen.

Aufgaben der Rechtsvertretung

Mit dieser Rechtsvertretung soll sich das Kind respektiert und ernst genommen fühlen. Die Rechtsvertretung kann sich in Gesprächen mit dem Kind oder seinem Umfeld informieren, ob und welchen Vorstellungen, Wünsche und Sorgen das Kind zur Frage der Fremdunterbringung entwickelt hat und welche Wünsche es bezüglich der Unterbringungsform hat.  

Durch die Rechtsvertretung soll die Perspektive des Kindes direkt ins Verfahren eingebracht werden. Widersprechen die Wünsche des Kindes dem Kindeswohl – zum Beispiel, wenn ein Jugendlicher lieber im häuslichen Umfeld bleiben möchte, weil er dann mehr Freiräume erfährt – dann muss die Kindesvertretung dies gegenüber dem Kind ansprechen und im Zweifel auch die Gründe für ein Handeln des Kindesschutzsystems gegen den Kindeswillen erklären und an einer Akzeptanzbasis arbeiten. 

Einvernehmliche Lösungen suchen

Die Rechtsvertretung sorgt dafür, dass der Kindeswille von den amtlichen Stellen gehört wird, und dass Kinderrechte und Verfahrensrechte berücksichtigt werden. Zugleich versucht die Rechtsvertretung einvernehmliche Lösungen zu fördern. Die Kontaktaufnahme durch die Rechtsvertretung mit dem Kind findet im konkreten Fall über dessen Hauptbezugsperson statt. Zunächst fragt die Rechtsvertretung das Kind, wo es die Rechtsvertretung treffen möchte.

Anschliessend finden die Gespräche statt. Das kann beim Kind zu Hause sein, manchmal aber auch bewusst im Büro der Rechtsvertretung, wo sich das Kind möglicherweise freier äussern kann. Im ersten Gespräch erklärt die Rechtsvertretung ihre vom Gericht oder der Behörde unabhängige Rolle, das Verfahren, welches eröffnet wurde und warum sie eingesetzt wurde. Sie versucht im Gespräch zu erfahren, was das Kind bereits weiss, wie es seine aktuelle Situation sieht und was es sich wünscht.

Kompetenzen der Rechtsvertretung

Auch mit den Hauptbezugspersonen und anderen wichtigen Menschen im sozialen Umfeld des Kindes, aber auch etwa mit der Beistandsperson, sucht die Rechtsvertretung das Gespräch. Bevor die Rechtsvertretung ein Gesuch oder eine Eingabe ans Gericht oder an die Behörde schreibt, bespricht sie den Inhalt mit dem Kind. Auch der Entscheid, der vielleicht nicht dem Kindeswunsch entspricht, erklärt die Rechtsvertretung dem Kind, sodass es diesen versteht.

Für diese anspruchsvollen Aufgaben benötigt die Rechtsvertretung ein interdisziplinäres Profil: Sie muss sowohl über Wissen in Entwicklungs- und Familienpsychologie, Pädagogik und Konfliktdynamiken verfügen als auch juristische Kenntnisse mitbringen. Sie muss in der Lage sein, Eingaben zu verfassen sowie Rechtsmittel zu ergreifen. Dafür benötigt sie Kenntnisse des Rechts, insbesondere des Verfahrensrechts. Ebenso wichtig sind methodische Kompetenzen in der altersadäquaten Gesprächsführung von Kindern und Jugendlichen sowie im professionellen und vermittelnden Austausch mit Eltern und anderen Fachpersonen.

Neues Weiterbildungsangebot für Rechtsvertretungen

An der ZHAW kann diesen Herbst eine Weiterbildung mit Abschluss Certificate of Advanced Studies (CAS) belegt werden, bei der die erforderlichen Kompetenzen für Rechtsvertretungen vermittelt werden.

Daniela Reimer vom Institut für Kindheit, Jugend und Familie an der ZHAW Soziale Arbeit und Gisela Kilde von der Fachstelle für Privatrecht an der ZHAW School of Management and Law leiten den neuen CAS «Rechtsvertretung für Kinder und Jugendliche».

CAS Rechtsvertretung für Kinder und Jugendliche