Heim oder Familie: Wie wachsen Pflegekinder am besten auf?
Die Schweizer Pflegekinderhilfe ist im Umbruch. Doch man sollte zuerst über Qualitätsstandards diskutieren, bevor man politische Weichen stellt.
von Daniela Reimer
Wenn Kinder in einem Heim oder einer Pflegefamilie aufwachsen, wird das in der Regel kritisch beäugt. Das liegt an der leidvollen Geschichte dieser beiden Formen von Fremdplatzierung, die von Moralismus, Missbrauchserfahrungen und Beamtenwillkür geprägt ist, in der Schweiz zumindest bis zur Aufhebung des Jugendhilfegesetzes im Jahr 1981. Seither hat sich vieles grundlegend geändert, politisch, juristisch, gesellschaftlich.
Aus einer Professionsperspektive der Sozialen Arbeit stellen sich bei einer Fremdplatzierung in einer Pflegefamilie folgende Leitfragen: Welche Rahmenbedingungen brauchen Kinder und Familien? Was ist eine gute Unterstützung für Pflegekinder? Wie kann eine Struktur so gestaltet sein, dass sie im besten Interesse des Kindes ist, also seine Bedürfnisse und seine Situation im Mittelpunkt stehen?
Strengere Aufsicht von Heimen
Diese Fragen werden seit dem Postulat der damaligen Nationalrätin und heutigen Regierungsrätin Jacqueline Fehr aus dem Jahr 2002, in welchem sie klare, kindzentrierte und national einheitliche Standards für die Pflegekinderhilfe forderte, regelmässig sowohl in der Sozialen Arbeit wie auch auf politischer Ebene diskutiert. Doch nicht nur in der Schweiz, sondern auch in anderen europäischen Ländern, vor allem in Osteuropa, wird diskutiert, wie gemeinsame Qualitätsstandards entwickelt werden können. Dies mit dem Ziel, dass weniger Kinder in Heimen platziert werden und sie stattdessen eine Pflegefamilie finden. In Deutschland etwa verabschiedete der Bundestag im Frühjahr eine Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes. Dieses beinhaltet unter anderem eine strengere Aufsicht von Heimen und ähnlichen Einrichtungen sowie Anlaufstellen für fremdplatzierte Kinder und Jugendliche.
Schweizweit grosse Unterschiede
In der Schweiz haben diverse Kantone – darunter auch die grossen Kantone Zürich und Bern – ihre Rahmenbedingungen für die Pflegekinderhilfe in den vergangenen Jahren verändert oder sie arbeiten derzeit an Veränderungen. In Zürich soll die neue Verordnung zum Kinder- und Jugendheimgesetz (KJG) per 1. Januar 2022 in Kraft treten.
Ein Grund für die angestrebten Änderungen ist die grosse Diversität in den Finanzierungs- und Begleitstrukturen für Pflegeverhältnisse, sogar innerhalb der Kantone. Zum einen gibt es unbegleitete Pflegeverhältnisse, die in den meisten Gemeinden nur wenige Aufsichtsbesuche pro Jahr bekommen; viele davon sind Verwandtenpflegeverhältnisse. Zum anderen gibt es durch private Dienstleistungsanbieter in der Familienpflege (DAF) vermittelte und begleitete Pflegeverhältnisse.
Übersicht und Transparenz erwünscht
Je nach DAF sind diese unterschiedlich eng gerahmt. Rund die Hälfte der Pflegekinder in der Deutschschweiz werden über DAF vermittelt, weshalb sie eine bedeutende Rolle im Rahmen der Fremdplatzierung spielen. Und als Drittes gibt es professionelle Pflegefamilien, in denen mindestens ein Pflegeelternteil eine pädagogische Ausbildung hat. Zudem bekommen sie nicht nur einen Lohn für ihre Tätigkeit, sondern werden meistens auch noch professionell begleitet. Die Höhe der Entlöhnungen und die Kriterien, warum welches Kind wo platziert wird, sind nicht immer eindeutig.
Ausserdem fehlt bis jetzt eine schweizweite Übersicht. Die anstehenden Änderungen in den Kantonen können dem System mehr Transparenz und eine stärkere Angleichung ermöglichen. Im Kanton Bern wird angeknüpft an das Projekt «Optimierung der ergänzenden Hilfen zur Erziehung» (Projekt OeHE), bei dem die Begleitung von Pflegeverhältnissen seit einigen Jahren insbesondere auf Krisensituationen fokussiert wird. In Zürich soll mit dem neuen Kinder- und Jugendheimgesetz die Begleitung durch DAF nicht mehr pauschal finanziert, sondern nach erfolgten Leistungen abgerechnet werden. Ausserdem schlägt der Kanton vor, das Setting der professionellen Pflegefamilien innerhalb von fünf Jahren abzuschaffen. Einige Punkte sind noch in Diskussion; die letzten Anpassungen werden bis zum Inkrafttreten am 1. Januar 2022 erfolgen.
Oft ohne wissenschaftliche Begleitung
Parallel zu den Änderungen in den Kantonen hat die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) im Januar 2021 insgesamt 42 Empfehlungen für die ausserfamiliale Unterbringung von Kindern veröffentlicht. In diesen Empfehlungen wird das Kindeswohl ins Zentrum gestellt. Zudem werden qualitative Mindeststandards für eine einvernehmliche oder angeordnete Fremdunterbringung festgelegt. Die SODK-Empfehlungen verstehen sich als Orientierungsrahmen für fachliche und politische Gremien. Ebenso sollen kantonale Stellen und Gemeinden die Weiterentwicklung ihrer Prozesse danach ausrichten können.
Die kantonalen Anpassungen und die Empfehlungen der SODK sind parallele Prozesse. Sie beeinflussen sich wechselseitig, weil sie den Rahmen stecken für die strukturelle und fachliche Weiterentwicklung der Pflegekinderhilfe und entsprechend aufeinander abgestimmt werden müssen. Wissenschaftlich begleitet werden die kantonalen Änderungen bisher nur an wenigen Orten, zum Beispiel im Kanton Neuchâtel. Unklar wird in all den Neuerungen zunehmend die Rolle der DAF, die auch vorher an den meisten Orten nicht vollständig geklärt war. In ihrer ganzen – manchmal auch kritisch betrachteten – Vielfalt haben die DAF in den letzten Jahrzehnten die bis anhin in Laienhänden befindliche Pflegekinderhilfe professionalisiert und an vielen Orten verbessert.
Neue Art der Abrechnung wäre aufwendiger
In den Empfehlungen der SODK wird nun nicht vorgeschlagen, sie in der Interkantonalen Vereinbarung für soziale Einrichtungen (IVSE) aufzunehmen, wie dies von vielen DAF gefordert wird. Auch im Vertragsverhältnis zwischen Gemeinden und Pflegefamilien werden DAF nicht als Vertragspartner vorgeschlagen. Neue Finanzierungsvorschläge wie etwa die Abrechnung auf Stundenbasis würden dazu führen, dass die Arbeit der DAF administrativ aufwendiger und die finanzielle Basis prekärer werden würden.
Während in der Schweiz Pflegefamilien immer noch allzu oft als günstige Alternative zur Heimerziehung betrachtet werden, die idealerweise noch günstiger werden soll, hat die Europäische Union die Pflegekinderhilfe zur besten Option für ausserfamiliale Unterbringungen ernannt und treibt den Ausbau der Pflegekinderhilfe im Rahmen der EU-Deinstitutionalisierungsinitiative seit Anfang 2000 massiv voran. In manchen osteuropäischen Ländern, die bis in die Nullerjahre hinein traurige Berühmtheit erlangten wegen ihrer grossen Institutionen und der dort herrschenden furchtbaren Zustände, leben heute deutlich mehr Kinder in Pflegefamilien als in Heimen, so etwa in Serbien, Bulgarien und Rumänien.
EU will viel weniger Heime
Während in der Schweiz weiterhin viele kleine Kinder in Institutionen leben, will die Europäische Union diese Praxis unterbinden und fordert das Ende der institutionellen Platzierung von allen Kindern, insbesondere der jüngeren Kinder. Damit ist sie auch im Einklang mit internationalen Erklärungen, wie zum Beispiel der «United Nations Guidelines for the Alternative Care of Children», die fordern, dass Heimplatzierungen limitiert beziehungsweise nur für ältere Kinder in Betracht gezogen werden sollen, für die genau dieses spezialisierte Setting angemessen ist.
Zwar stellt sich auch in der EU die Frage, wie Pflegefamilien gefunden und gut begleitet werden können. In vielen Ländern gibt es zu wenige Pflegefamilien und zu wenige qualifizierte Fachpersonen für die Begleitung. Doch die Zielrichtung ist klar, und es werden deutlich Ressourcen für den Ausbau der Pflegekinderhilfe zur Verfügung gestellt. Um zwei der oben genannten Länder als Beispiele zu nennen: Rumänien kündigte 2017 an, über 100 Millionen Euro aus EU-Geldern dafür aufzuwenden, und in Bulgarien wurden zwischen 2014 und 2020 über 160 Millionen Euro in die Deinstitutionalisierung eingesetzt.
Fachverbände investieren in Forschung
In der Schweiz gestalten derzeit verschiedene Organisationen und Projekte die Weiterentwicklung der Pflegekinderhilfe mit. Die SODK hat ihre oben erwähnten Empfehlungen veröffentlicht. Der Fachverband Integras hat «Standards: Prozessqualität zur Platzierung von Kindern und Jugendlichen in Pflegefamilien» ausgearbeitet und veröffentlicht. Auch in die Forschung wird derzeit viel investiert, unter anderem im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 76 «Fürsorge und Zwang» sowie durch das von der Palatin-Stiftung lancierte Projekt «Pflegekinder – Next Generation». Allein die ZHAW Soziale Arbeit ist an drei Projekten beteiligt beziehungsweise führt diese durch, zum Teil in Kooperation mit anderen Hochschulen (siehe Kasten unten).
Alle diese Studien haben eine intensive Beteiligung sowohl der sozialarbeiterischen Praxis wie auch die Partizipation der Adressatinnen und Adressaten – Kinder und Pflegefamilien – im Fokus. Mit diesen verschiedenen Bemühungen, Projekten, Empfehlungen und Standards sind die besten Voraussetzungen dafür vorhanden, eine grundlegende Diskussion darüber zu führen, wie der Pflegekinderbereich in der Schweiz dauerhaft so aufgestellt werden kann, dass er zukunftsfähig ist. Ziel der Diskussion muss es sein, eine Pflegekinderhilfe zu entwickeln, die das beste Interesse des Kindes ins Zentrum stellt.
Zuerst diskutieren, dann entscheiden
Welche Ressourcen braucht es dafür? Welche politischen Weichen müssen gestellt werden? Welche Rolle sollen Pflegefamilien im System der Kinder- und Jugendhilfe zukünftig spielen? Welche Kompetenzen müssen die Fachpersonen in der Pflegekinderhilfe besitzen, und welche Weiterbildungsangebote braucht es für sie? Um diese Diskussion fundiert zu führen, müssen sich die zentralen Akteurinnen und Akteure all dieser Prozesse nun zusammenfinden. Denn eine fundierte Weiterentwicklung gibt es nur, wenn alle mitgenommen werden: die Praxis in den kommunalen und kantonalen Stellen sowie in den DAF, die Politik und auch die Wissenschaft.
Forschungsprojekte zu Pflegekindern
Am Institut für Kindheit, Jugend und Familie der ZHAW Soziale Arbeit hat im März 2021 die SNF-Studie «Bilder der Pflegefamilie – und ihre Wirkung auf Kooperationsprozesse» unter der Leitung von Daniela Reimer gestartet. Ziel ist es, Entwicklungsmöglichkeiten und -grenzen der Pflegekinderhilfe in der Praxis fundiert zu diskutieren und Reflexionsflächen für Fachkräfte zu schaffen. Die Palatin-Stiftung fördert im Rahmen des Projekts «Pflegekinder – Next Generation» seit April 2021 drei Studien; sechs Schweizer Hochschulen sind beteiligt, auch die ZHAW. So leitet Daniela Reimer die Studie «Gute Begleitung von Pflegeverhältnissen», und Nadja Ramsauer arbeitet an der Studie zu den «Kantonalen Strukturen der Pflegekinderhilfe» mit.