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Liebe Eltern, erzählt uns vom Krieg

Bei Partys vereint, bei Gedenkfeiern getrennt: Wie die politische Geschichte ihrer Herkunftsregion junge Menschen aus dem Balkan in der Schweiz bewegt, ist Gegenstand einer Studie und einer Veranstaltung der ZHAW.

Von Dilyara Müller-Suleymanova

Dina erzählt auf Berndeutsch, wie sie als 12-Jährige den Kriegsausbruch in ihrem bosnischen Heimatdorf erlebte.

Kichernd versuchen junge Frauen und Männer am Rande des Alba-Musikfestivals in Zürich-West vergeblich, das Alphabet in ihrer Muttersprache Albanisch aufzusagen.

Anıl erläutert, wie die Klänge, die er als Kind aus dem Radio seiner Eltern hörte, dazu führten, dass er in Zürich eine Partyreihe mit psychedelischer Musik aus Anatolien gründete.

Das sind drei verschiedene Geschichten von Menschen aus drei verschiedenen Herkunftsländern im Balkan, vereint auf «Baba News», dem «Onlinemagazin für Šhvicer*innen mit Wurzeln von überall». Wie diese Menschen gehört auch «Baba News»-Chefredaktorin Albina Muhtari zu einer jüngeren Generation mit Migrationsgeschichte, die in kreativen und oftmals subkulturellen Formen mit ihrer Ethnizität umgeht. Manchmal würfeln sie dabei alles Mögliche zusammen, ungeachtet dessen, ob ältere Verwandte früher vielleicht auf politisch gegnerischen Seiten standen.

Junge Menschen wie sie, deren Familien einst aus Kriegs- oder Konfliktgebieten in die Schweiz geflohen sind, leben Erinnerungen und Erfahrungen aus dem Herkunftsland weiter – sogar dann, wenn sie den Konflikt nicht am eigenen Leib erlebten. Denn die Schatten eines Krieges sind lang und haben viele Formen.

Traurige Aktualität durch Ukrainekrieg

Wie stellen junge Menschen mit ex-jugoslawischen und türkischen Wurzeln, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind, einen Bezug zur Geschichte ihres Heimatlandes her, das in einen Krieg oder einen anderweitigen politischen Konflikt verwickelt war? Wie prägt das ihren Alltag und beeinflusst es ihre Identität? In einem vom Schweizerischen Nationalfonds und von der Kulturstiftung Landis+Gyr unterstützten Projekt untersuchte ich mit einem Forschungsteam diese Fragen.

Das Projekt bekam, obwohl es zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen war, mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine Ende Februar eine traurige Aktualität. Die Bilder von zerstörten Städten und Geflüchteten erinnerten meine Interviewpartner:innen und Kolleg:innen mit ex-jugoslawischen Wurzeln sogleich an den Zerfall von Jugoslawien und an den Bosnienkrieg.

Erinnerungen leben schweigend weiter

Genau dreissig Jahre ist es her, seit Sarajewo, eine moderne, kosmopolitische Stadt mitten in Europa, beschossen und während mehr als drei Jahren belagert wurde. Für viele Menschen mit exjugoslawischen Wurzeln hat jetzt der Krieg in Fotos: Kosovogue der Ukraine einen re-traumatisierenden Effekt. Und er verstärkt die Angst, dass der Krieg auf dem Balkan neu entflammt. Während der Jugoslawienkriege zwischen 1991 und 2001 ersuchten weit über 100000 Menschen aus dieser Region um Asyl in der Schweiz. Heute haben in der Schweiz mehr als fünf Prozent der Bevölkerung familiäre Wurzeln im ehemaligen Jugoslawien.

Die Erinnerungen an den Krieg leben in den Familien weiter, oftmals in einer schweigsamen, verborgenen Form. Bei den Interviews für unsere Studie hörte ich immer wieder, dass junge Menschen, die ihre Eltern nach der Vergangenheit fragen, nur eine knappe oder ausweichende Antwort erhalten. Der israelische Psychologe Dan Bar-On nennt dies in seinem Werk «Fear and Hope: Three Generations of Holocaust» von 1995 die «doppelte Mauer des Schweigens».

Die Gründe für dieses Schweigen haben mit Familiendynamik zu tun. Viele Eltern verdrängten die schmerzhaften Erinnerungen, damit sie einem Aufbau des Lebens im neuen Land nicht im Weg stehen. Man will die Kinder schützen und sie nicht mit schwierigen Erfahrungen und Erinnerungen belasten.

Die Kinder wiederum fragen nicht nach, weil sie bei ihren Eltern keine schmerzhaften Erinnerungen wecken wollen. Erst später, wenn zum Beispiel die Kinder eine eigene Familie gründen und im Leben fest auf beiden Beinen stehen, beginnen Eltern zu reden. Doch wenn sie etwas erzählen, dann oftmals spontan, losgelöst vom Alltag und in Form von kurzen, vermeintlich lustigen Anekdoten aus dem Krieg. So hat mir ein Interviewpartner erzählt, dass sein Vater plötzlich in einer Rauchpause angefangen habe, vom Konzentrationslager im Bosnienkrieg zu erzählen, und wie dort die Zigaretten als gängige Zahlungsmittel verwendet wurden. Humor ist auch eine Art und Weise, solche Erfahrungen zu bewältigen.

«Jugo»-Kultur zelebrieren

Wenn es um das gesellschaftliche Leben geht, sozialisieren sich viele junge Menschen mit ex-jugoslawischen Wurzeln gerne in den «Balkan-Clubs» oder an «Balkan-Partys», zu denen Popstars aus der Region einreisen. Hier wird eine gemeinsame «Balkaner»- oder «Jugo»-Identität und -Kultur zelebriert. Dazu gehören selbst zugewiesene Spontaneität genauso wie eine ungeregelte, freie und familienbetonte Lebensweise.

Die Herkunftskultur kann sich demzufolge nicht nur trennend auswirken, sondern sie kann auch verbinden, beispielsweise durch die gemeinsame Sprache oder gleiches Essen, spezifische kulturelle Praktiken und Normen, mit denen man aufwuchs und immer wieder während der Sommerferien «da undä» konfrontiert wird.

Dynamiken zwischen Communitys

Alle diese Dinge bilden eine gemeinsame Erfahrungsbasis und eine Identität, die sich stark vom «ordentlich» und «pünktlich» bezeichneten Schweizer Lebensstil abgrenzt. Dabei kommt es auch immer wieder zu romantischen Beziehungen über die ethnischen Grenzen hinweg, was wiederum zu Problemen mit dem Elternhaus und der weiteren Verwandtschaft führen kann. Das Onlinemagazin «Baba News» thematisiert diese Dynamiken zwischen verschiedenen Communitys regelmässig, zum einen auf humorvolle Weise mit selbstironischen Memes, zum anderen sehr ernsthaft.

Obwohl die junge Generation die Gemeinsamkeiten lebt und über die ethnischen Grenzen hinaus Freundschaften und Beziehungen knüpft, spielen die Konfliktlinien in ihrem Leben in bestimmten Situationen durchaus eine Rolle. Etwa, wenn es um die Heirat geht. Zudem ist das organisierte Diaspora-Leben entlang der ethno-religiösen Linien geteilt und die verschiedenen ethnischen Vereine haben wenige bis gar keine Berührungspunkte.

Grosse Wissenslücken über Herkunft

So hält denn auch jede Community ihre eigenen Gedenkveranstaltungen ab, etwa für den Genozid an Bosniak:innen — eine Bezeichnung für muslimische Bosnier:innen — beim Massaker von Srebrenica im Juli 1995. Mit Ausnahme von kleineren Initiativen wie der von der Direktion für Entwicklungszusammenarbeit unterstützten Initiative i-platform.ch oder kulturellen Organisationen wie Matica BiH gibt es keine einheitliche bosnische Diaspora. Diese ist unterteilt in serbischorthodoxe, kroatisch-katholische und bosniakischmuslimische Vereine.

Die Eindrücke von den Ereignissen der Vergangenheit und von der Familiengeschichte bleiben für die meisten jungen Menschen, die in der Schweiz geboren sind, fragmentarisch. Das führt mitunter zu grossen Wissenslücken, die auch nur selten im Schweizer Schulunterricht ausgefüllt werden.

Zugleich sind viele dieser jungen Menschen mit migrationsspezifischen Herausforderungen konfrontiert. Sie werden aufgrund ihrer Migrationsgeschichte ausgeschlossen, ihnen fehlt das Gefühl der Anerkennung und der Zugehörigkeit zur Schweizer Gesellschaft, die sie als «Andere» wahrnimmt und ihnen das auch zu spüren gibt. Daraus entstehen komplexe Dynamiken mit schwierigen Prozessen der Identitätsfindung.

Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Krieges oder politischen Konflikts kann zu einer stärkeren Gewichtung der eigenen ethnischen Identität führen, wenn sie mit starken emotionalen und symbolischen Inhalten aufgeladen ist. Das kann der Fall sein, wenn eine Gruppe aufgrund ihrer ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit verfolgt worden ist, wie beispielsweise Kosovo-Albaner:innen im damaligen Jugoslawien.

Opfer-Täter-Schemata

Auch können bestimmte ethnischen Kategorien stigmatisierend sein, wenn man dadurch als «Kriegstäter» bezeichnet wird. In der Folge nehmen viele junge Menschen noch stärker eine defensiv-nationalistische Haltung ein.

Das wiederum hat zur Folge, dass Narrative über Generationen hinweg gestärkt und reproduziert werden. In diesem Zusammenhang ist oftmals die Rede von Opfer-Täter-Schemata oder Erzählungen über die vermeintlich tatsächlichen Gründe des Krieges. Ebenso geht es um Narrative zur Zukunft («Es wird noch einen Krieg geben!») und Verschwörungstheorien, mit denen Jugendliche ihre Wissenslücken bezüglich Herkunftsregion füllen.

Auch Beleidigungen gehen vergessen

Auch von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz hört man Wörter wie «četnik» (ein Begriff aus dem Zweiten Weltkrieg für Serb:innen), «ustaša» (ein Begriff für Kroat:innen) oder «balija» (ein Begriff aus dem Bosnienkrieg für Bosniak:innen). Dies alles sind ethnische Bezeichnungen, die in den Jugoslawienkriegen stark abwertend gemeint und ideologisch aufgeladen waren. Junge Menschen in der Diaspora kennen die historischen Hintergründe dieser Bezeichnungen kaum; für sie bedeuten sie nicht viel mehr als eine Beleidigung.

Andere wiederum versuchen, ethnische Identitätskonstrukte zu überwinden, etwa indem sie in der Geschichte des jugoslawischen Zusammenlebens alternative Auffassungen der Zugehörigkeit suchen und eine Art «Jugo-Nostalgie» entwickeln.

Während wir die Studie durchführten, kam bei mir immer wieder die Frage auf, ob der Schweizer Öffentlichkeit diese Phänomene bewusst sind. Vermutlich nicht: Das Bewusstsein, dass die Schweiz ein Migrationsland ist, ist noch immer nicht durchgängig vorhanden. Und das Wissen um die Balkankriege ist nach wie vor gering. Hier gilt es nachzubessern. Mit Blick auf den Angriffskrieg auf die Ukraine wäre diese historische Kenntnis nötiger denn je.

Wie wirken sich Geschichten vom Krieg auf junge Menschen aus?

In der Veranstaltung «Der lange Schatten des Krieges» am 4. Oktober 2022 erhalten die Teilnehmenden Einblicke in das kürzlich abgeschlossene Forschungsprojekt, das sich mit der Bedeutung von Konflikt- und Kriegsnarrativen für junge Menschen mit einem Bezug zum ehemaligen Jugoslawien sowie der Türkei befasst hat. Es wird diskutiert, wie junge Menschen, die in der Schweiz aufgewachsen und sozialisiert worden sind, einen Bezug zu diesen Geschichten herstellen, wie diese familiären Erfahrungen in die eigenen biografischen Verläufe eingebettet sind und welchen Einfluss sie auf das Alltagsleben in der Schweiz haben.

Die Veranstaltung gehört zur Reihe «Um 6 im Kreis 5»; sie ist kostenlos und wird mit einem Apéro abgerundet.

Informationen und Anmeldung