Projekt «Streetwork»: Wie aufsuchende Sozialarbeit die Situation in der offenen Drogenszene verbesserte
Romina Beeli unterstützt Menschen am Rande der Gesellschaft durch Beratung und Soforthilfe. Für ihr Studium evaluierte sie ein Projekt in Chur.
von Regula Freuler
Romina Beeli schüttelt nur den Kopf, als man sie auf die aktuelle Titelseite der Zeitung «Südostschweiz» anspricht: «Drogenpolitik entzweit Stadt Chur und Kanton», lautet die Schlagzeile am Tag unseres Treffens im August. Anlass des Ärgers ist ein Konsumraum für drogenabhängige Menschen in der Bündner Hauptstadt. Nun hat die Kantonsregierung zwar das Budget der Suchthilfe ab kommendem Jahr erhöht, die Einrichtung eines solchen Raums jedoch vorerst abgelehnt. Und dies, obwohl Bedarfsabklärungen vorliegen und er seit Jahren von Fachleuten und Betroffenen gefordert wird. Der Grund: Im Stadtgarten, einem Park mitten in der Bündner Hauptstadt, hat sich seit Jahren eine offene Drogenszene etabliert.
«Ein geschützter Konsumraum ist unabdingbar», sagt die 30-jährige Beeli mit Nachdruck. Die Bündnerin hat an der ZHAW Soziale Arbeit studiert und wird demnächst ihre Masterarbeit schreiben. Sie leitet «Streetwork», ein Projekt für aufsuchende Sozialarbeit im öffentlichen Raum, das im Mai 2020 lanciert wurde. Es handelt sich um ein Angebot für Menschen, von denen ein grosser Teil an Suchtmittelabhängigkeit oder anderen psychischen Erkrankungen leidet – oder an beidem. «Was hier im Churer Stadtgarten abläuft, nimmt man in der Region zu wenig wahr», stellt Beeli fest.
Erinnerungen Kocherpark und Platzspitz
Wer die Stadt nicht kennt, reibt sich gleich zweimal die Augen: Es gibt in der Schweiz noch eine relativ grosse offene Drogenszene? Und man will keinen Konsumraum einrichten, obwohl der positive Effekt einer solchen Einrichtung vielfach belegt ist? An die Ausmasse von Berns Kocherpark oder Zürichs Platzspitz und Letten der achtziger und neunziger Jahre kommt die Situation in Chur zwar nicht heran. Doch selbst wenn die Zahl der Betroffenen geringer ist als damals, ihre Vulnerabilität ist es nicht.
Das Treffen mit Romina Beeli findet in einem untergemieteten Zimmer statt, das als Büro, Lager und Sitzungsort in einem dient. Hier befindet sich die Zentrale von «Streetwork». Tische, Stühle, Computer, Drucker, Regal – alles steht eng beieinander. Auf einer Kiste steht «Kleider» geschrieben. «Manchmal verteilen wir auch gespendete Jacken und Schuhe», erklärt die Sozialarbeiterin.
Kennerin der Szene
Zum Auftrag von «Streetwork» gehörte unter anderem, Kennzahlen der Szene zu erfassen und der Stadt Chur damit eine Übersicht über Zusammensetzung, Grösse und Bedürfnisse der Zielgruppe zu liefern. Die Erfassung der Daten erfolgte letztes Jahr, anonym. Rund 90 bis 100 Stammgäste zählten Romina Beeli und ihr Team im Stadtgarten. Mittlerweile seien es gegen 120, schätzt die Sozialarbeiterin. Es handelt sich mehrheitlich um Männer mittleren Alters, aber es sind auch einige sehr junge darunter und andere wiederum, die bereits auf dem 1995 geschlossenen Letten konsumiert haben.
Die Bündnerin ist eine profunde Kennerin des Stadtgartens, mit manchen der Gäste ist sie seit zehn Jahren in Kontakt. Sie hat deren Geschichten aufgeschrieben und in einem Buch veröffentlicht, für ihre Bachelorarbeit konzipierte sie im Jahr 2016 Churer Stadtführungen mit ihnen, und im Rahmen ihres Leistungsmoduls «Werkraum Projekte» hat sie die Erkenntnisse aus «Streetwork» evaluiert. Dass die Stadt dieses Projekt finanziert hat, wertet sie äusserst positiv: «Die Drogenpolitik in Graubünden hat in den vergangenen 20 Jahren stagniert. Endlich bekamen wir eine Chance, etwas tun zu können.»
Viel mehr Obdachlose als angenommen
Zwar gibt es die Anlaufstelle Überlebenshilfe Graubünden für obdachlose und drogenabhängige Menschen. Allerdings ist sie nicht zentral gelegen, und der Konsum ist dort verboten. Aufsuchende Soziale Arbeit gab es bisher nicht in Chur. Mit «Streetwork» wird nun das Angebot des Vereins Überlebenshilfe erweitert. Das ist wichtig. Denn rund die Hälfte der Klientinnen und Klienten von «Streetwork» nehmen die Angebote des Vereins gar nicht oder nur unregelmässig in Anspruch. Das Risiko der Verwahrlosung ist also hoch. «Die Mitarbeitenden der Stadtpolizei waren früher im Grunde die einzigen, die in den Stadtpark gingen und diese Menschen regelmässig sahen», sagt die Sozialarbeiterin.
Deren Lebensbedingungen zu verbessern, ist denn auch primäres Ziel von «Streetwork». Jeden zweiten Tag dreht ein Zweier-Team eine Runde. Sie beginnt und endet stets im Stadtgarten und dauert rund vier Stunden. In erster Linie sind die Sozialarbeiter beratend tätig. Dabei geht es um Finanzen, Wohnen, Konsum, Gesundheit. Sie versorgen aber auch Wunden und Abszesse und verteilen gelegentlich Essen. «Wir halfen auch schon einmal jemandem beim Installieren des Fernsehers zu Hause», erzählt die Bündnerin. «Das löst zwar nicht die eigentlichen Probleme, hilft aber für den Beziehungsaufbau.»
Manchmal braucht es einen «Kick»
Jetzt klopft es an der Türe: Igor Jovic ist da. Er geht heute mit auf die Runde. Der Sozialpädagoge hat bereits einen Arbeitstag in der Kinder- und Jugendpsychiatrie hinter sich. Doch «Streetwork» ist ihm zu wichtig, als dass er deswegen seinen Einsatz verschieben würde. Die beiden packen ihre schwarzen Umhängetaschen. Sie enthält unter anderem Informationsmaterial, Pflaster, Verbandszeug und frische Spritzen. Es ist gegen 18 Uhr, als wir uns auf den kurzen Weg zum Stadtgarten aufmachen.
Er wird eingerahmt von einer Mauer, die grösstenteils aus Grabsteinen besteht: Hier befand sich früher ein Friedhof. Es nieselt leicht. Unter dem Schatten der Bäume haben sich ein gutes Dutzend Menschen zusammengefunden, manche schwanken stark beim Gehen, alle sind mehr oder weniger durchnässt.
Mit schnellen Schritten kommt eine Frau mittleren Alters auf Romina Beeli zu, die beiden begrüssen sich herzlich, sofort entspinnt sich ein Gespräch. Es geht ums Wohnen. Die Sozialarbeiterin soll bei ihr zu Hause vorbeischauen und ihr bei einer administrativen Aufgabe helfen, bittet die Frau. Sie sei nicht faul, beteuert sie, aber manchmal brauche sie einen «Kick» von aussen. «Klar komme ich vorbei», sagt Beeli.
Ersatztherapie fehlt
Derweil wirkt die Szene unter dem Baum geschäftig. Es herrscht ein Hin und Her, im Mittelpunkt: das Freebasing. Dabei wird ein Kokain-Ammoniak-Gemisch geraucht. Gehandelt wird es in kleinen Brocken, auch «Steine» genannt, für zehn bis zwanzig Franken pro Stück. Das Basing sorgt für ein kurzes Flash von einigen Minuten, dann beginnt das Reissen von neuem. Eine Ersatztherapie für diese Substanz existiert nicht. «Es ist dringend nötig, dass die Politik den Abgabestellen ermöglicht, ihr Portfolio zu erweitern», erklärt Beeli.
Eine weitere Erkenntnis aus der «Streetwork»-Datenerhebung ist: Es gibt mehr obdachlose Menschen in Chur als angenommen und zu wenig Angebote für sie. Das Wohnungsthema treibt die ZHAW-Masterstudentin um. Sie beschäftigt sich intensiv mit dem Housing-First-Ansatz und wird ihre Masterarbeit dazu zu schreiben. Mit einer Machbarkeitsstudie für Chur möchte sie dennoch nicht beauftragt werden: «Forschung muss politisch unabhängig sein», sagt sie, während ihr Blick regelmässig zu den Menschen im Park gleitet.
Motivierend einwirken
«Geht es euch gut?», fragt sie in die Runde. Allgemeines Nicken. Als wäre das ein Zeichen, rückt Samuel, der in Wirklichkeit anders heisst, näher. Er hat heute einen Termin mit Romina Beeli. Sie soll ihn zur Post begleiten, um Kontoauszüge zu holen. Es ist kompliziert: Er benötigt die Auszüge, um Sozialhilfe beziehen zu können, aber eine Postzustellung ist nicht möglich, weil er keine feste Adresse hat. Eine persönliche Aushändigung wiederum scheint das Postsystem zu überfordern. Die vier bisherigen Versuche, an die Dokumente zu kommen, scheiterten. «Heute haben wir vielleicht Glück», ermuntert ihn die Sozialarbeiterin. Samuel ist skeptisch.
Wir verlassen den Park und gehen die fünfhundert Meter zur Post. Nach wenigen Minuten sind die beiden schon wieder draussen – ohne Kontoauszüge. Samuel lacht bitter: «Da geht gar nichts, sie machen ein System-Update. Ausgerechnet.» Romina Beeli hat Verständnis für seinen Frust. Menschen wie er erleben täglich Absagen, sei es für Wohnungen, Jobs oder eben auch bei administrativen Angelegenheiten. Dann legt sie ihm die Hand auf die Schulter: «Übermorgen versuchen wir es wieder.»