Warum die Jugendkriminalität in der Schweiz steigt
Die jüngste Kriminalstatistik zeigt: Im Jahr 2020 wurden erneut mehr Minderjährige einer Straftat beschuldigt als im Vorjahr. Dirk Baier vom Institut für Delinquenz und Kriminalprävention analysiert die möglichen Gründe.
von Regula Freuler
Container brannten, Flaschen und Knallkörper flogen in die eine Richtung, Gummischrot in die andere: Seit Ende März kam es in St.Gallen zu Versammlungen junger Menschen, die in beachtliche Sachbeschädigungen und Attacken gegen die Polizei eskalierten. Es gab Aufrufe in sozialen Netzwerken, auch in anderen Städten «fett Party» zu machen und sich gegebenenfalls gegen Zugriffe durch «die Blauen» zu «wehren».
Viele Medien und Behörden interpretierten die Randale als Ausdruck des Frusts über die Corona-Massnahmen, die junge Menschen besonders hart treffen. Die seit über einem Jahr andauernden Einschränkungen mögen mitunter eine Rolle gespielt haben, sagt Dirk Baier vom Institut für Delinquenz und Kriminalprävention. Dennoch relativiert er: «Solche Ereignisse hatten wir auch schon vor der Pandemie.»
Tatsächlich zeigt die vor kurzem veröffentlichte Kriminalstatistik: Seit 2015 stieg zum fünften Mal in Folge die Zahl der Minderjährigen, die einer Straftat beschuldigt werden. Über alle Delikte hinweg nahm die Jugendkriminalität in diesem Zeitraum um etwa ein Drittel zu, die Kriminalität insgesamt – also auch unter Einrechnung der Erwachsenen – aber um 5,3% ab. Allein an Corona kann es also nicht liegen. Woran aber dann?
Dirk Baier hat die Statistiken 2015 bis 2020 nach bekannten Faktoren, die mit Jugendkriminalität in Zusammenhang stehen, analysiert:
1. Geschlecht und Herkunft
Männliche Jugendliche und Jugendliche ausländischer Herkunft begehen einen überproportionalen Anteil an Straftaten. Aber: Zwischen 2015 und 2020 ging die Anzahl aller männlichen Jugendlichen um 3,7% zurück, und die Anzahl ausländischer Jugendlicher stieg geringfügig um 3,7%. «Die leichte Zunahme der Anzahl ausländischer Jugendlicher kann also nicht als Grund für die Kriminalitätszunahme angeführt werden», so Dirk Baier.
Ausserdem: Zwar wurden insgesamt mehr ausländische Jugendliche einer Straftat beschuldigt, jedoch stiegen die Belastungszahlen bei Schweizer Jugendlichen seit 2015 um 36%, bei ausländischen Jugendlichen nur um 26,1%.
2. Urbanität
Junge Menschen in städtischen Regionen werden häufiger einer Straftat beschuldigt als Jugendliche in ländlichen Regionen. Die hauptsächlichen Gründe dafür: Erstens ist im urbanen Umfeld die Anzeigebereitschaft höher, zweitens gibt es dort mehr Gelegenheiten zum Begehen einer Straftat und drittens ist die soziale Kontrolle niedriger.
Die jüngste Kriminalstatistik aber zeigt: Die Belastungszahl der 15- bis 17-jährigen in den drei städtisch geprägten Kantonen ist weniger stark gestiegen als in eher ländlichen Kantonen. Der Anstieg der Jugendkriminalität ist also kein Stadt-, sondern auch ein Landphänomen.
3. Bildung und Arbeit
Eine schlechte soziale Lage gilt als Risikofaktor für Jugendkriminalität, Indikatoren dafür sind Arbeitslosigkeit und Schulabbruch. Was sagen die Zahlen? Bis 2019, dem letzten verfügbaren Jahr, ist die Arbeitslosigkeit unter den 15- bis 24-Jährigen nicht gestiegen, sondern von 3,4% auf 2,2 % gesunken.
«Subjektiv schlechter werdende Zukunftsperspektiven können ein Grund dafür sein, dass Jugendliche vermehrt kriminelle Taten begehen.»
Dirk Baier, Leiter Institut für Delinquenz und Kriminalprävention, ZHAW
Ebenso sank der Anteil junger Menschen, die höchstens über einen Abschluss der obligatorischen Schule verfügten und nicht mehr eingeschult waren, von 5,9% auf 5,2%. Die soziale Lage hinsichtlich Bildung und Job ist für junge Menschen in der Schweiz seit 2015 also besser geworden.
«Objektive Lage und subjektive Einschätzung können jedoch auseinanderfallen», sagt Dirk Baier und weist auf eine Studie aus Deutschland hin. Diese ergab, dass mehr junge Menschen ihre Zukunft «eher düster» sehen. «Subjektiv schlechter werdende Zukunftsperspektiven können möglicherweise ein Grund dafür sein, dass Jugendliche vermehrt kriminelle Taten begehen – auch in der Schweiz», so der Kriminologe.
4. Familie, Peers und Freizeitverhalten
Junge Menschen, die elterliche Gewalt erfahren (haben), weisen generell eine höhere Bereitschaft auf, Normen zu brechen. Laut einer Studie von Kinderschutz Schweiz (2020) nimmt der Anteil von Eltern, die regelmässig körperliche Gewalt anwenden, hierzulande allerdings ab. Bei der Befragung im Jahr 2017 lag er bei 5,8%, drei Jahre später noch bei 3,2%. Auch stieg der Anteil an Eltern, die nie körperliche Gewalt angewendet haben, um 8%. «Eine Verschlechterung der innerfamiliären Situation zwischen 2015 und 2020 ist nicht zu beobachten», resümiert Dirk Baier.
Drei Freizeitaktivitäten stehen mit kriminellem Verhalten in Beziehung. Eine davon ist unstrukturiertes Verbringen von Zeit an Orten, die von Erwachsenen wenig kontrolliert sind. Laut der James-Studie der ZHAW wird das Treffen mit Freunden als Freizeitaktivität jedoch unwichtiger. Hingegen geben mehr Jugendliche an, in ihrer Freizeit «auszuruhen und nichts zu tun». Das ist nicht zwingend mit Herumhängen im öffentlichen Raum gleichzusetzen, aber es deutet laut Baier darauf hin, dass unstrukturierte Freizeit, verbunden mit Langeweile, unter Jugendlichen zunehmen könnte.
Als risikohaft eingestuft werden ausserdem häufiger Gewaltmedienkonsum und häufiger Kontakt mit delinquenten Peers. Nun gibt es aber keine Studien oder Hinweise darauf, dass mehr brutale Medieninhalte konsumiert werden. Hinsichtlich der delinquenten Gruppenkontexte ist die Informationslage unzureichend. Allerdings kann der starke Anstieg des Delikts «Beteiligung Angriff» um 122% seit 2015 auf mehr Kontakt zu delinquenten Freunden ein Hinweis sein, dass es sich um einen zunehmend wichtigeren Problembereich handelt.
5. Drogen, Waffen, Mobbing und Schulschwänzen
Je eher Jugendliche zu Alkohol und Drogen greifen, umso eher begehen sie auch Straftaten. «Teilweise sind es die gleichen Faktoren, die den Alkohol- und Drogenkonsum und das kriminelle Verhalten beeinflussen», sagt der Kriminologe. Fest steht: Zwischen 2014 und 2018 stieg der Anteil männlicher Jugendlicher, die Alkohol und Cannabis konsumieren. Neuere Befragungsdaten fehlen noch.
Auch Schulschwänzen wird mit Jugendkriminalität in Verbindung gebracht. Hier weisen verschiedene Befragungen auf eine Steigerung von 5,0% im Jahr 2021 auf 15,4% im Jahr 2018 hin. In jüngerer Zeit wurde in Medien wiederholt von häufigerem Mitführen und Gebrauchen von Messern berichtet.
Für die Schweiz liegen zwar keine gesonderten Zahlen für dieses Verhalten unter Jugendlichen vor. Insgesamt jedoch nimmt die Zahl schwerer Körperverletzungen mit Schneid- und/oder Stichwaffen zu. Auch ein wachsender Trend von niederschwelligem aggressivem Verhalten wie (Cyber-)Mobbing wird in verschiedenen Untersuchungen nachgewiesen.
Zukunftsperspektiven schaffen
Die genannten, gängigen Faktoren geben keinen eindeutigen Aufschluss darüber, warum die Jugendkriminalität erneut gestiegen ist in der Schweiz. Welche anderen Erklärungsfaktoren könnten stattdessen verantwortlich sein? «Möglicherweise hat sich die Anzahl multipel belasteter Jugendlicher erhöht, das heisst solche, die von Arbeitslosigkeit, frühzeitigem Schulabbruch, elterlicher Gewalt und anderem gleichzeitig betroffen sind», sagt der Kriminologe.
Ebenso können weitere gesellschaftliche Faktoren mitspielen. So deuten die Zunahme von Männlichkeitsnormen und die erhöhte Akzeptanz von Gewalt unter Jugendlichen auf ein soziales Klima hin, in welchem Kriminalität sich durchsetzt. Dirk Baier plädiert darum dafür, Initiativen wie das «Nationale Programm Jugend und Gewalt», das 2015 eingestellt wurde, wieder aufzunehmen.
Im Zusammenhang mit Corona und der damit verbundenen sich verschlechternden psychischen Situation der Jugendlichen sollte vor allem auf die Zukunftsperspektiven junger Menschen fokussiert werden. Dazu gehören nicht nur die Wiederaufnahme von Freizeit- und Kontaktmöglichkeiten. «Vor allem sollten auch Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten ausgebaut beziehungsweise geschaffen werden, denn sie stellen die Grundlage der sozialen Integration dar», sagt Baier.
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