«Wir kommen der Bevölkerung näher»
Mehr Platz für neue Studiengänge und ein schweizweit einzigartiges Behandlungszentrum: Mit dem Umzug ins Haus Adeline Favre auf dem Sulzerareal nähert sich das ZHAW-Departement Gesundheit der Vision einer Health University weiter an. Direktor Andreas Gerber-Grote erklärt, welchen Mehrwert eine solche Health University für die regionale Gesundheitsversorgung bietet und weshalb er am neuen Standort einen engeren Austausch mit der Winterthurer Bevölkerung erwartet.
Herr Gerber-Grote, das Haus Adeline Favre ist ja nicht bloss ein neues Zuhause für das Departement Gesundheit. Es steht auch für die Entwicklung des Departements hin zu einer Health University. Was zeichnet eine solche aus?
Grundsätzlich steht dabei die Frage im Zentrum: Für wen ist eine Ausbildungsstätte der Gesundheitsberufe gedacht? Und letztlich sind wir für die gesamte Bevölkerung da. Neben dem Bildungsauftrag für den Nachwuchs von Gesundheits-fachleuten sollen wir deshalb auch zur Versorgung der regionalen Bevölkerung beitragen. Zudem wollen wir uns stärker an den drängenden Herausforderungen im Gesundheitswesen ausrichten. Eine Health University zeichnet sich dadurch aus, dass Gesundheitsberufe interprofessionell an Lösungen dieser Herausforderungen arbeiten. Alle arbeiten unter einem Dach und gruppieren sich nach Themen und nicht nach Professionen. Und als Arzt darf ich das so sagen: Es ist auch ein Weg für die Gesundheitsberufe, sich von der Ärzteschaft als Mass aller Berufe im Gesundheitswesen zu emanzipieren. Durch die Orientierung an Gesundheitsthemen werden Pflegefachpersonen, Hebammen oder Physiotherapeutinnen zu einem unverzichtbaren Teil eines Versorgungsnetzwerks.
Die ersten Health Universities in Skandinavien sind auf-grund einer Versorgungsnotlage in abgelegenen Gebieten entstanden. Weshalb braucht es ein solches Modell in der Schweiz mit ihrer sehr guten Gesundheitsversorgung?
Wenn man genauer hinschaut, gibt es auch in der Schweiz Unterversorgung. Nicht nur in abgelegenen Berggebieten, sondern auch in urbanen Regionen wie Zürich. Sei es im hausärztlichen Bereich, bei den Hebammen oder in der Physiotherapie, wenn wir beispielsweise das mittlere Tösstal betrachten. Gleichzeitig gibt es auch Über- und Fehlversorgungen: etwa zu hohe Kaiserschnittraten oder unnötige Operationen statt Physiotherapie. Wenn sich eine Health University also auch um die regionale Versorgung sorgt, müssen solche Probleme in den Blick genommen werden. Die Idee der Health University muss also neu interpretiert und an die heutigen Verhältnisse in der Schweiz angepasst werden.
2015 wurde in einer Dreiländertagung am Departement Gesundheit das Konzept der Health University vertieft diskutiert, 2016 wurden Sie Direktor des Departements Gesundheit. Wie stark konnte es sich seither diesem Ideal annähern?
Denkt man eine Health University nicht als physischen Ort, sondern als Netzwerk von Partnerinstitutionen, die zusammen ausbilden, forschen und Probleme in der Versorgung angehen, haben wir die letzten Jahre einige Schritte gemacht. So haben wir unter anderem mit der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich, dem Universitätsspital Zürich und dem Kantonsspital Winterthur sowie Ausbildern wie dem Careum und dem Zentrum für Ausbildung im Gesundheitswesen eine enge Zusammenarbeit etabliert. Daraus entstanden sind beispielsweise die Zürcher Interprofessionelle Ausbildungsstation ZIPAS, das Doktoratsprogramm Care and Rehabilitation Sciences oder der Interprofessional Education Day.
Der Fokus lag in den letzten Jahren also auf der Interprofessionalität als einer der Säulen einer Health University?
Ja, denn die Herausforderungen im Gesundheitswesen können nicht von einer Profession alleine gelöst werden. So müssen sie beispielsweise bei der wachsenden Gruppe älterer Patienten mit mehreren, teils chronischen Krankheiten zusammenarbeiten und gemeinsam Lösungen für die komplexen Konstellationen finden. Natürlich werden die einzelnen Gesundheitsberufe weiterhin ihre spezifischen Kompetenzen und Studiengänge haben. Unsere Studierenden sollten aber schon früh in der Ausbildung eine gemeinsame Berufsidentität entwickeln. Diese Ansicht teilen zwar einige nicht, aber meiner Meinung nach müssen die einzelnen Berufe von Studienbeginn weg die Aufgaben und Kompetenzen der anderen sowie die eigenen Grenzen und Schnittstellen kennen, damit interprofessionelle Zusammenarbeit in der gemeinsamen «DNA» aufgebaut werden kann.
Was fehlt dem Departement Gesundheit noch zu einer vollwertigen Health University?
Nun, wir können nicht einfach beschliessen, dass wir eine Health University sind. Dafür brauchen wir unser Netzwerk mit Partnern und Praxisinstitutionen. Insbesondere die Medizinerinnen und Mediziner müssen mit im Boot sein – deshalb auch die verstärkte Zusammenarbeit mit der Universität Zürich und der ETH Zürich, aber auch mit Spitälern wie dem Kantonsspital Winterthur. Letztlich wäre es ideal, wenn unsere Studierenden mit Medizinstudierenden am selben Ort wären und einen Teil des Studiums gemeinsam absolvieren würden. Bis zu meiner Pensionierung etwa 2030 werde ich das aber wohl nicht mehr erleben. Langfristig kann ich mir eine «Greater Zurich Health University» als Netzwerk im Grossraum Zürich vorstellen, in dem neben Ausbildungsstätten auch Spitäler und Praxisgemeinschaften, Heime und die Spitex, aber auch Firmen aus der Healthtech- oder Pharmabranche sowie der Gesundheitsökonomie gemeinsam an Antworten auf die grossen Versorgungs- und Gesundheitsfragen arbeiten.
Inwiefern treibt der neue Standort die Umsetzung der Vision «Health University» voran?
Mit dem Thetriz, dem neuen Winterthurer Therapie-, Trainings- und Beratungszentrum im Haus Adeline Favre, machen wir einen weiteren Schritt. Wir bieten dort ab 2021 gewisse Behandlungen und Beratungen für die Bevölkerung an. Unsere Studierenden werden dabei unter Anleitung mit echten Patientinnen und Patienten arbeiten. Neben einer noch stärker praxisorientierten Ausbildung ermöglicht uns das Thetriz, in die regionale Versorgung einzusteigen. Nicht, um bestehende Anbieter zu konkurrenzieren, sondern um mit ihnen zusammenzuarbeiten.
Dieses ambulante Versorgungsmodell ist ein Novum für die Schweiz. Was erwarten Sie vom Thetriz?
Unsere Studierenden werden künftig noch vor dem ersten Praktikum in Kontakt mit echten Klientinnen und Patienten kommen. Dadurch machen sie einige Ausbildungsschritte schneller und früher. Darüber hinaus erhoffe ich mir, dass mit dem Thetriz das öffentliche Bewusstsein für unsere Ausbildungsstätte und unsere gute Arbeit zunimmt. Und dass wir dadurch mit der Bevölkerung stärker in Kontakt kommen und Fragestellungen aufnehmen können. Wo gibt es zum Beispiel Versorgungsdefizite, die wir beheben können? Insgesamt kommen wir so der Bevölkerung näher und können ihren Puls fühlen.
Entsprechend der Grundidee der Health University, alle gesundheitsrelevanten Berufe an einem Ort auszubilden: Kann man am Departement Gesundheit bald auch Soziologie, Psychologie oder Städtebau studieren?
Nein (lacht). Diese Expertise besteht bereits an anderen Departementen der ZHAW. Dieses Netzwerk können wir aber je nach Problemstellung nutzen, was wir ja schon heute bei zahlreichen gemeinsamen Forschungsprojekten machen. Erhalten wir vom Fachhochschulrat zudem grünes Licht, können wir bereits 2021 mit einem Studiengang in biomedizinischer Analytik starten, den wir gemeinsam mit dem ZHAW-Departement Life Sciences und Facility Management planen. Darüber hinaus könnte ich mir einen Studiengang für Physician Assistants vorstellen, die an der Schnittstelle zwischen Ärzteschaft und Pflege eine Lücke in der Versorgung schliessen würden. Doch auch hier sind wir auf Partnerschaften angewiesen, da ein solcher Studiengang medizinische Expertise benötigt – etwa mit der Universität Zürich und sicher mit dem Kantonsspital Winterthur, das mit klinischen Fachspezialisten seit mehreren Jahren ein solches Berufsprofil an dieser Schnittstelle aufbaut.
Auf was haben Sie sich am neuen Standort des Departements Gesundheit am meisten gefreut?
Zunächst einmal auf das Haus Adeline Favre an sich: Wir haben das schönste Hochschulgebäude der Schweiz. Mir gefallen die Leichtigkeit und Asymmetrie des Innenraums und die Aussenfassade, die sich wunderbar ins Quartier einfügt. Und ich freue mich, dass wir bei der Belebung der Lokstadt mitwirken können. Das ist auch ganz im Sinne der Health University: Dass wir hier am neuen Standort stärker in die Quartiergemeinschaft eingebunden sind, den Austausch mit den Bewohnerinnen und Bewohnern wahrnehmen und im Quartier zu einer guten Gesundheitsversorgung beitragen können.