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Wohlbefinden und Verletzlichkeit aus Sicht eines Kindes

Wie findet man heraus, was Kinder unter Sicherheit und Geborgenheit verstehen? Zwei Wissenschaftlerinnen berichten von ihren Erfahrungen aus einem Forschungsprojekt.

Ein Junge rutscht eine aufblasbare Rutsche hinunter
Ein ausgelassenes Kind fühlt sich sichtbar wohl beim Spielen auf einer aufblasbaren Rutsche. (Bild: Unsplash)

Führt man mit Erwachsenen Studien zu ihrem Wohlbefinden durch, dann befragt man sie zum Beispiel mit einem Online-Fragebogen oder in einem leitfadengestützten Interview. Will man das Wohlbefinden von Kindern ergründen, muss man anders vorgehen. Die Fragen sind oft einfach zu abstrakt für Kinder.  

Es gibt jedoch erprobte Methoden, wie mit Kindern und Jugendlichen erfolgreich über ihr Wohlbefinden gesprochen werden kann, um dadurch Einblicke in ihre Lebenswelt, ihre Sichtweisen und ihre subjektiven Erfahrungen zu bekommen. Dazu müssen wir mit Kindern ins Gespräch kommen, ihnen zuhören und sie mit ihren Aussagen, ihrem Erleben, ihren Emotionen ernst nehmen, nachfragen und das alles möglichst kreativ und spielerisch angehen. Eben kindzentriert. 

Forschungsprojekt

Mit Kindern ins Gespräch zu kommen ist uns ein grosses Anliegen in unserem Forschungsprojekt «Verletzlichkeit und Wohlbefinden in der Kindheit», das wir im Jahr 2021 starteten. In dessen Rahmen führten wir Interviews in der gesamten Schweiz mit Kindern und Jugendlichen zwischen 8 und 14 Jahren, die in Kontakt mit der Kinder- und Jugendhilfe stehen. Wir haben in der Romandie, im Tessin und in der Deutschschweiz insgesamt 56 Interviews erhoben: 23 mit Kindern und Jugendlichen, die in ihren Herkunftsfamilien aufwachsen, sowie mit 33 Kindern und Jugendlichen in stationären Angeboten.  

Dabei trieben uns vor allem die Fragen um, was Kinder vulnerabel macht, aber auch, was sie selbst unter Wohlbefinden – in der Forschung meistens «Well-being» genannt – verstehen (Pohl & Pomey, 2023). Die Ergebnisse sind bei unserem Praxispartner Integras online dargestellt.  

Vulnerabilität und Well-being

Die beiden Konzepte oder Phänomene Vulnerabilität und Well-being sind dabei nicht als gegensätzliche Pole zu verstehen. Die Frage danach, wie Wohlbefinden mit Verletzlichkeit zusammenhängen, ist ebenfalls eine leitende Frage unseres Projektes. Auch, ob Kinder und Jugendliche, die biografische Vulnerabilitätserfahrungen gemacht haben, eine andere Sicht auf Wohlbefinden haben und inwiefern sich diese Sicht dann unterscheidet von derjenigen anderer Kinder. Oder wissenschaftlich gefragt, inwiefern sich Erfahrungen von Prekarisierung und Vulnerabilität in die Sichtweisen auf Well-being einschreiben.  

Wir verstehen unter Well-being zweierlei: Es geht sowohl um die subjektiven Gefühle (Wohlbefinden) wie auch um objektive Lebensbedingungen (Wohlergehen). Es geht um die Erfüllung von Wünschen und Möglichkeiten zur Entwicklung und Selbstverwirklichung. Dabei wird die UN-Kinderrechtskonvention als Möglichkeit verstanden für Wohlbefinden und Wohlergehen von Kindern zu sorgen, was sich auf die Qualität des Lebens der Kinder/Jugendlichen in wirtschaftlicher, emotionaler, sozialer und kultureller Hinsicht auswirkt (Ben-Arieh et al., 2014).  

Unter Vulnerabilität verstehen wir Verletzlichkeit, Verletzbarkeit oder Verwundbarkeit. Sie ist eine menschliche Grundbedingung, denn alle Menschen sind vulnerabel, unabhängig von Alter oder Status, da wir voneinander abhängig und einander sozial ausgesetzt sind. Vulnerabilität ist also nicht als Eigenschaft einer Person oder Zuschreibung einer Gruppe zu verstehen, sondern als relationales Phänomen. Sie ist allerdings ungleich verteilt, Menschen sind ungleich verteilter Gefährdung ausgesetzt (Burghardt et al., 2017; Butler, 2012; Janssen, 2018; Lorey, 2020). 

Internationaler Forschungsverbund

Unser Projekt wird vom Schweizer Nationalfond gefördert und ist Teil des internationalen Forschungsverbunds www.cuwb.org, in dem weltweit in 26 Ländern das Wohlbefinden von Kindern erforscht wird. Die Besonderheit des Verbundes ist, dass eine einheitliche Methode erarbeitet wurde, um mit den Kindern über ihr Wohlbefinden zu sprechen.  

Gespräch meint dabei nicht nur das Sprechen miteinander, es ist nicht auf verbale Äusserungen beschränkt, sondern kann so viel mehr sein. Dabei wurden Leitfadeninterviews entwickelt, es wurde mit Well-being Maps und mit Fokusgruppen gearbeitet (Fattore et al., 2019). Doch wie sieht das praktisch aus? 

Verwendung von Well-being Maps

Wir haben den Kindern verschiedene Materialen, diverse Stifte, buntes Papier, Emoji-Sticker zur Verfügung gestellt und sie gebeten, aufzumalen/aufzuschreiben, was ihnen in ihrem Leben wichtig ist. So sind Well-being Maps entstanden. Diese Zeichnungen haben wir anschliessend genutzt, um mehr darüber zu erfahren, welche Erlebnisse Kinder mit den aufgezeichneten Personen, Orten, Dingen, Aktivitäten und Ereignissen oder Erfahrungen verbinden und wie sie sich dabei fühlen. Zwei Beispiele solcher Well-being Maps stellen wir hier vor. 

Der 13-jährige Liam (13) - alle Namen sind anonymisiert - wächst in der Deutschschweiz in einem stationären Angebot der Kinder- und Jugendhilfe auf. Er zeichnet verschiedene Medien (analoge und digitale), die Familie, seine Freunde und die Katze. Das sind die zentralen Personen und Aktivitäten, wenn es um sein Wohlbefinden geht. Besonders schön die Katze, denn Haustiere (so lässt sich in der Analyse der vielschichtigen Interviewdaten mehrerer Kinder herausarbeiten) sind gerade für Kinder mit brüchigen Beziehungserfahrungen bedeutsam, da sie oft bedingungslose Zuneigung und Geborgenheit vermitteln (die Katze begrüsst mich immer und freut sich, wenn ich heimkomme).

Auch die 14-jährige Sandrine aus der Romandie wächst in einem stationären Angebot der Kinder- und Jugendhilfe auf. Sie zeichnet ihre zwei besten Freundinnen und ihre grosse Familie mit Hund, die Schule und ihre Lehrerin sowie ihre Kolleg:innen in der Institution. Ebenso zeichnet sie Kleider, da sie gerne einkaufen geht, und ihre Freunde ausserhalb der Einrichtung. Das sind die für Sandrine wichtigsten Bezüge, wenn es um ihr Wohlbefinden geht.

Die kreative Arbeit diente nicht nur als Erzählstimulus, sondern konnte auch über das Interview hinweg von den Kindern genutzt werden, um sich während des Interviews zu beschäftigen. Es gab einige Kinder und Jugendliche, die während des Erzählens gemalt oder mit den Stiften etwas gebaut haben. Kindern fällt es oft leichter, etwas zu erzählen, wenn sie gleichzeitig etwas tun können. 

Fragen und Erzählaufforderungen

Die Interviewfragen unseres Leitfadens zielten auf verschiedene Lebensbereiche und -erfahrungen ab. Dabei haben wir eine offene Frage gestellt und die Kinder und Jugendlichen ermuntert, uns dazu zu erzählen, wenn sie möchten. Durch die Erzählaufforderungen konnten wir ein Ja-Nein-Antwortspiel (Ping-Pong) umgehen und viel mehr zu den Erfahrungen und Sichtweisen der Kinder erfahren. Wenn beispielsweise ein Kind gesagt hat, dass es sich in der Küche der Institution besonders wohlfühlt, dann haben wir nachgefragt: «Kannst du uns dazu ein Beispiel erzählen oder magst du uns das noch etwas genauer erzählen? Wenn man etwas über das Wohlbefinden von Kindern erfahren will, ist es hilfreich, offene Fragen zu stellen, die Raum bieten und sich auch von Antworten überraschen zu lassen. 

Aus der Forschung wissen wir, dass Sicherheit, Geborgenheit, Gehörtwerden, Anerkennung und Wertschätzung fürs Wohlbefinden zentral sind. Auch Ansprechpersonen zu haben, die einem unterstützen/helfen, ist von grosser Bedeutung. Ebenso wichtig sind Orte und Räume, die Frieden, Geborgenheit, Schutz, Rückzug und Privatsphäre sowie Autonomie und Selbstwirksamkeit bieten (Pohl & Pomey, 2024). Auch Aktivitäten zählen zu den Well-being-relevanten Dingen. So kann danach gefragt werden: 

  • Gibt es Personen, mit denen du dich besonders wohl oder sicher fühlst?  
  • Gibt es Orte/Räume, an denen du dich besonders wohl, sicher, geborgen … fühlst?  
  • Gibt es Aktivitäten/Hobbys, die dir ein gutes Gefühl geben?  

Wie sich in der Analyse der Interviews zeigte, hängt Wohlbefinden auch mit Zugehörigkeit zusammen. So könnte in Gesprächen mit Kindern auch über ihr Zugehörigkeitsgefühl gesprochen werden, wenn es um ihre bestehenden und möglicherweise vulnerablen sozialen Beziehungen geht (Pomey & d’Alessandri, 2024). 

Validierung in Fokusgruppen

Die Ergebnisse aus den Einzelinterviews haben wir den Kindern zurückgespielt. Dabei ging es uns um eine partizipative Validierung der Erkenntnisse. In Fokusgruppen haben wir ihnen Ergebnisse aus unserer Studie und aus dem internationalen Kontext vorgestellt und sie gebeten, diese danach zu sortieren, was jedem Kind wichtig ist.  

Neben den vorgegebenen Themen konnten sie auch weitere ergänzen. So wurden «digitale Medien», «guter Kontakt zu Eltern» und «Familie, die dich liebt» ergänzt.

Da uns neben dem Wohlbefinden auch das Thema Sicherheit interessiert und die Bedeutung des Raums «Heim», haben wir die Kinder zudem gebeten, die verschiedenen Räume im Heim aufzuschreiben und mit Hilfe von farbigen Stickern zu markieren, an welchen Orten sie sich sicher fühlen. Denn Sicherheit ist ein zentrales Element, wenn es um Wohlbefinden geht.

Es zeigen sich private Orte wie das Zimmer, die Gruppe oder das WC als sichere Räume. Öffentliche oder halböffentliche Räume wie das Dorf, das Areal, die Schule wurden als halbsicher wahrgenommen. Daneben gibt es auch ambivalente Räume wie der Wald.

Best Practice

Die Kinder haben gerne und viel erzählt. Dabei haben sie nicht nur positive Erlebnisse erzählt, sondern auch den Raum genutzt, um schwierige Erlebnisse, bedrohliche und unsichere Situationen und auch Gewalterfahrungen zuhause oder in der Institution, zu erzählen. Wenn also nach Well-being gefragt wird, kann es auch Raum geben über «not being well» zu sprechen. Dabei war es uns sehr wichtig, ihnen immer die Wahl zu lassen, ob sie über ein belastendes Thema sprechen möchten oder nicht. Denn Kindheitsforschung generell und besonders eine traumasensible Interviewführung orientiert sich an ethischen Grundsätzen wie «choice voice exit»: eine gute Grundlage, wie mit Kindern gesprochen werden kann. Dies bedeutet:

  • Choice: Kindern und Jugendlichen die Wahl lassen, wann, wie und worüber sie sprechen möchten.
  • Voice: Kindern und Jugendlichen eine Stimme geben, sie ernst nehmen, ihnen zuhören.
  • Exit: Kindern und Jugendlichen jederzeit und ohne Angabe von Gründen den Ausstieg zu ermöglichen.

Wenn Kinder und Jugendliche über Gewalterfahrungen oder aktuelle Bedrohungen berichten kann es sein, dass kindesschutzrelevante Fragen auftauchen, zu denen wir uns anhand rechtlicher und ethischer Gesichtspunkte verhalten müssen.

Eine wichtige Rückmeldung der Kinder war übrigens, dass sie sich gefreut haben, dass ihnen endlich einmal jemand zuhört und sie einfach erzählen dürfen, ohne bewertet zu werden. Das hat uns zum Nachdenken angeregt.