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Die Kreislaufwirtschaft erleben | Vom Hörsaal ins Fenster-Lager

Der ZHAW-Dozent und Experte für Kreislaufwirtschaft Gabriel Schneider tauschte seinen Platz an der ZHAW für ein halbes Jahr gegen praktische Erfahrungen ein. Was er dabei über Reparaturen, Wiederverwendung und wirtschaftliche Realitäten lernte, erzählte er uns im Gespräch.

Foto: Madeleine Schoder

«Unglaublich viel Material wird weggeworfen», sagt Schneider gleich zu Beginn unseres Gesprächs und berichtet von seinen Erfahrungen während des sechsmonatigen Sabbaticals. Sein Ziel war es die Herausforderungen der Kreislaufwirtschaft selbst zu erleben – jenseits theoretischer Konzepte. Schneider erkundete und engagierte sich dafür in zwei Projekten im Bereich Circular Economy.

Sein Weg führte ihn tiefer in die «Re-Use-Community» und zum Verein RE-WIN, der sich zum Ziel gesetzt hat, eine Kultur der Wiederverwendung von Bauteilen sowohl in der Architekturszene, in Planungsbüros als auch in der Bauwirtschaft zu etablieren. Ein weiteres Anliegen des 2022 gegründeten Vereins ist es, das gewonnene Know-how zum Wiederaufbau in Krisengebieten einzusetzen. Seit Kriegsausbruch im Jahr 2022 wurden 6 292 Fenster aus der Schweiz in die Ukraine transportiert, was zu einer Einsparung von 884 Tonnen CO₂ führte. Trotz dem Transport der Fenster per Lastwagen war der CO₂-Ausstoss mindestens 70 Prozent geringer als der CO₂-Ausstoss einer Neuproduktion der Fenster.

Neues second-hand Fenster-Lager in Winterthur

Zurzeit betreibt RE-WIN sechs Lager in der Schweiz, unter anderem auch in Basel und in Bern. Als Gabriel Schneider erfuhr, dass ausgerechnet im Raum Zürich – wo rund ein Drittel aller Fenster in der Schweiz verbaut sind – kein Lager für gebrauchte Fenster existierte, wurde er aktiv. In Winterthur baute Schneider einen neuen Lagerstandort auf. Eine Aufgabe, die ihn mit den Realitäten des Baugewerbes konfrontierte. «Viele Bauleute denken: Tolle Sache, gratis Ausbau und auch gleich entsorgt», erzählt Schneider. Doch der Verein benötigt die Fenster in wiederverwendbarem Zustand, was mehr Zeitaufwand und damit höhere Kosten bedeutet. In nur wenigen Wochen musste er zusehen, wie 1100 intakte Fenster verloren gingen, weil Bauverantwortliche den sorgfältigen Ausbau nicht finanzieren wollten.

«Oft sind neue Produkte günstiger als die Arbeitszeit für Recherche und Reparatur»

Schneider widmete sich auch der Reparatur von Alltagsgegenständen: vieles aus dem eigenen Haus, aber auch Fahrräder oder Haushaltsgeräte von Freunden. Akribisch dokumentierte er, was er reparierte. Seine Erkenntnis: «Man muss sich zwischen Materialkosten und Zeitaufwand entscheiden. Oft sind neue Produkte günstiger als die Arbeitszeit für Recherche und Reparatur.» Funktionierende Lösungen fand er nur dort, wo Menschen ihre Zeit ehrenamtlich zur Verfügung stellen, wie in Repair-Cafés, die oftmals von pensionierten Ingenieurinnen und Ingenieuren betrieben werden. 

Seine Erkenntnisse aus dem Reparieren von Alltagsgegenständen und der Mithilfe am Fenster-Recycling-Projekt zeigen die Diskrepanz zwischen theoretischen Konzepten und wirtschaftlicher Realität.

Die Suche nach dem «Modus Vivendi»

Das Sabbatical nutzte Gabriel Schneider aber nicht nur beruflich, sondern auch zur persönlichen Orientierung. In seinen Engagements sucht der dreifache Familienvater und passionierte Bergsteiger immer wieder die Herausforderung. In der von ihm mitgegründeten ZHAW Big Band spielt er Posaune, im Verein RE-WIN rettet er Fenster und an der Hochschule treibt er Innovationsprojekte voran. Bei all dieser Dynamik suchte er im letzten halben Jahr auch nach einem «Modus Vivendi», einem Lebensstil, der diese vielfältigen Engagements langfristig mit dem Privatleben in Einklang bringt und den er auch in den nächsten Jahren beibehalten kann.

Dass dabei der Faktor Zeit eine entscheidende Rolle spielt, überrascht nicht. «Viele Aktivitäten entfalten ihren wahren Reiz erst, wenn man sie langsam ausführt», reflektiert Gabriel Schneider. Dabei spielt die bewusste Zeiteinteilung eine zentrale Rolle: Regelmässiger Sport und Musik haben einen festen Platz in seinem Alltag gefunden. Gleichzeitig hat er gelernt, selektiver mit Projekten und Verpflichtungen umzugehen. «Ich überlege mir besser, wohin ich meinen Fokus lege, und sage öfter Nein zu Dingen, die mich nicht weiterbringen.» Besonders wertvoll erscheint ihm die vermeintlich unproduktive Zeit – Tagträume inklusive. Auch seinen Medienkonsum hat er radikal eingeschränkt: Statt täglicher Online-News liest er nur noch die Donnerstagsausgabe der Wochenzeitung «Die Zeit».

Heute ist Schneider zurück in der Lehre an der ZHAW. Das Fenster-Projekt führt er ehrenamtlich weiter. Seine Botschaft ist klar: «Kreislaufwirtschaft braucht mehr als gute Ideen. Sie braucht praktikable Lösungen, die ökologische und ökonomische Aspekte vereinen, denn ohne ökonomischen Nutzen bleibt eine funktionierende und damit einflussreiche Kreislaufwirtschaft leider nur eine theoretische Idee.»