Nachhaltigkeit in der Kultur: Interview #4 mit Paola Pitton
Unsere Interviewreihe «Nachhaltigkeit in der Kultur» geht in die nächste Runde: Im vierten Interview mit Paola Pitton, Verantwortliche für den Bereich Tanz und für die Kommunikation der Fachstelle Kultur inklusiv, erhalten wir Einblicke in die nachhaltige Inklusion im Kulturbereich.
Die Fachstelle Kultur inklusiv von Pro Infirmis engagiert sich für eine nachhaltig inklusive Kultur für und mit Menschen mit Behinderungen in der Schweiz; seit 2016 in der Deutschschweiz, seit 2018 in der Romandie und seit 2019 im Tessin. Sie betreut das Label «Kultur inklusiv» und sensibilisiert, berät und begleitet Kulturakteure aller Sparten und Profilen bei ihren Inklusionsmassnahmen. Die Labelpartner lassen sich auf einen nachhaltigen Prozess ein, verpflichten sich zu einer ganzheitlich inklusiven Haltung und anerkennen die «Charta zur kulturellen Inklusion». Die Charta wurde 2020 gemeinsam mit Labelpartnern, Stakeholdern und Fachpersonen mit Behinderungen entwickelt und ist Teil der Labelvereinbarungen. Knapp 80 Kulturinstitutionen tragen aktuell das Label «Kultur inklusiv», davon 20 in der Romandie und vier im Tessin.
Paola Pitton ist verantwortlich für die Kommunikation der Fachstelle und für den Bereich Tanz. Sie ist ausgebildete Balletttänzerin und -pädagogin, hat in Basel Osteuropäische Geschichte studiert (Lizentiat) und während 15 Jahren als (Kultur)-Journalistin für Print, Online und Radio gearbeitet.
Bild Copyright: Olaf Kühne
Frau Pitton, die Fachstelle Kultur inklusiv von Pro Infirmis, das Kompetenzzentrum für Inklusion im Kulturbereich, engagiert sich im Rahmen der sozialen Dimension der Nachhaltigkeit. Wo steht Ihrer Einschätzung nach der Schweizer Kulturbereich punkto Nachhaltigkeit mit Fokus Inklusion heute? Was wünschen Sie sich diesbezüglich für die Zukunft?
Die Schweiz steht punkto Inklusion von Menschen mit Behinderungen nicht nur in Bezug auf Kultur am Anfang. Sie hat zwar 2014 die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert, in der Artikel 30 explizit das Recht auf kulturelle Teilhabe benennt. Aber für ihren ersten Tätigkeitsbericht zur Umsetzung bekam sie diesen Frühling schlechte Noten vom UN-BRK-Ausschuss. Das zeigt: Inklusion geschieht nicht auf Knopfdruck oder per Unterschrift. Sie ist ein langjähriger gesellschaftlicher Prozess, der nachhaltiges Tun fordert und der noch lange nicht abgeschlossen ist. Erschwerend für den Kulturbereich kommt hinzu, dass die Finanzierung von kultureller Inklusion vielfach nur als Aufgabe der Abteilungen für Soziales missverstanden wird. Deshalb ist es wichtig, dass Kulturförderstellen sich ihrer mit der UN-BRK eingegangenen Verpflichtung bewusst werden und die Subventionsvergabe an Inklusionsmassnahmen knüpfen. Das ist eine Voraussetzung damit Inklusion langfristig und nachhaltig in Kulturinstitutionen umgesetzt wird. Wichtig ist weiter, dass das Bundesamt für Kultur die entsprechenden Weichen stellt und Inklusion von Menschen mit Behinderungen auch in seiner Kulturbotschaft 2025-2028 ausdrücklich zum Ziel macht.
Oftmals rückt beim Nachhaltigkeitsthema die soziale Dimension in den Hintergrund, jedoch ist sie genauso wichtig für das Gesamtkonzept. Wie kommt das und wie erlebt Kultur inklusiv den Trade-off zwischen den verschiedenen Dimensionen der Nachhaltigkeit (ökonomisch, ökologisch, sozial) im Kulturbetrieb?
Eine ganzheitliche Handlungsweise ist selten, weil viele Kulturhäuser schlicht keine Ressourcen dafür haben und sich für das Eine oder das Andere entscheiden. Auch innerhalb der sozialen Dimension wird aufgesplittet: Beim Engagement für mehr «Diversität» im Kulturbereich fokussiert man sich vielfach auf Menschen mit Migrationshintergrund und auf die LGBTQ+-Community oder auf Menschen mit Behinderungen, dabei müsste im Sinne der Inklusion dieses Denken in Kategorien aufgegeben werden. Wir haben auch Labelpartner, die mit neuen Diversitätsstrategien damit bewusst umgehen. Das Konzept «Happy Museums» versucht auch in der Schweiz eine ganzheitliche Nachhaltigkeit im Sinne der Agenda 2030 zu fördern.
Seit Anfang 2020 legt Kultur inklusiv den Fokus auf nachhaltige Inklusion. Was ist mit nachhaltiger Inklusion gemeint?
Knapp 20 Prozent der Schweizer Bevölkerung lebt mit Behinderungen. Damit diese gesellschaftliche Realität im Kulturbereich abbildet wird und Menschen mit Behinderungen im Publikum, aber auch auf und hinter der Bühne tätig sind, braucht es einen langfristigen Haltungswechsel. Dieser muss in einer Kulturinstitution verankert sein, damit Inklusion nicht mit dem Wechsel der Intendantin oder bei gekürzten Subventionen wieder vom Tisch ist. Eine Voraussetzung für nachhaltige Inklusion sind strukturelle Veränderungen, zum Beispiel: Inklusion ist im Leitbild verankert, sie wird von der Leitung mitgetragen und vorangebracht, zeitliche und finanzielle Ressourcen sind gesprochen und Expert*innen mit Behinderungen werden beigezogen. Fehlt diese Verankerung, bleibt es häufig bei punktuellen «Inklusionsversuchen»: Man bietet einmalig eine audiodeskribierte Theatervorstellung an oder eine Museumsführung mit Übersetzung in Gebärdensprache. Kommen dann wenig oder keine Besuchende aus der Zielgruppe, bricht man die «Übung» ab, weil vermeintlich kein Interesse besteht. Wer jedoch bislang von der Kultur ausgeschlossen war, braucht Zeit, um Angebote wahrzunehmen und sich darauf einzulassen. Es braucht nachhaltig geplante, durchgeführte und evaluierte Inklusionsmassnahmen, um das Zielpublikum zu erreichen.
Kultur inklusiv hat zwischen 2016 und 2020 ein grosses Wachstum erlebt: In diesen vier Jahren haben 70 Kulturinstitutionen das Label «Kultur inklusiv» erhalten. Worauf ist dieses Wachstum zurückzuführen?
Anfangs sind wir auf Kulturinstitutionen zugegangen. Seit der Ausweitung in die Romandie 2018 und im Tessin 2019 sind wir ein nationales Projekt und erhalten viele Anfragen für eine Labelpartnerschaft. Leider können wir nicht allen nachkommen, um unsere bestehenden Partnerschaften angemessen begleiten können, mit unseren insgesamt drei Vollzeitstellen verteilt auf fünf Mitarbeiterinnen. In den letzten Jahren haben wir aber im Sinne der Nachhaltigkeit zahlreiche Inklusions-Tools wie einen «Wegweiser» für inklusive Veranstaltungen der Performing Arts, Merkblätter und Adresslisten erarbeitet, die jede interessierte Kulturinstitution auf unserer Webseite kostenlos herunterladen und nutzen kann.
Die Wirkung von Labels im Allgemeinen wird oft kritisch hinterfragt. Wie erleben Sie die Wirkung des Labels «Kultur inklusiv»? Wie wird es von den tragenden Organisationen eingesetzt bzw. welche Wirkung übt es auf die Organisationen aus?
Kulturinstitutionen, die das Label tragen, berichten uns, dass das Label insbesondere betriebsintern wirkt, indem es die Mitarbeitenden sensibilisiert. Das Label und die Vereinbarung mit «Kultur inklusiv» über vier Jahr sind ein Kompass, um Inklusionsmassnahmen zu planen und umzusetzen. Nach aussen wirkt das Label, um Finanzierungspartner wie zum Beispiel Stiftungen zu erreichen und kulturaffine Menschen mit Behinderungen auf Angebote aufmerksam zu machen.
Das Label umfasst fünf Handlungsfelder: Kulturelles Angebot, Inhaltlicher Zugang, Baulicher Zugang, Arbeitsangebote und Kommunikation. Welches Handlungsfeld hat sich bis 2020 am meisten verändert/verbessert? Wo ist aktuell am meisten Handlungsbedarf?
Für das Publikum sind das kulturelle Angebot und das Angebot an inhaltlichen Zugangshilfen gewachsen. Hingegen wird der Zugang für Kulturschaffende noch wenig mitgedacht und so sind beispielsweise Bühnen für Performende mit Mobilitätsbehinderungen oft nicht erreichbar. Auch arbeiten nur sehr wenig Menschen mit Behinderungen in Museen, Theatern oder Orchestern. Einen grossen Handlungsbedarf gibt es somit auf Bildungs- und Ausbildungsebene. Im Kulturbereich ist der Weg zu einer Tanz-, Theater- oder Musikausbildung für Menschen mit Behinderungen in der Schweiz versperrt. Dabei gibt es auch hier klare Vorgaben. Das Recht auf Bildung steht auch in der Agenda 2030 der UNO.
Kultur inklusiv hat seit ihrer Gründung schon Vieles bewegt in der Schweiz: Nebst dem Label gibt es eine «Charta zur kulturellen Inklusion», es werden regelmässige Netzwerktreffen organisiert und diverse Tools und Hilfsmittel zur Förderung von nachhaltiger Inklusion veröffentlicht. Welche Projekte stehen nun an? Was plant Kultur inklusiv in den nächsten Jahren umzusetzen und zu erreichen?
Damit Kulturinstitutionen passende und nachhaltige inklusive Angebote schaffen können, müssen Menschen mit Behinderungen stärker und von Anfang an miteinbezogen werden. Das funktioniert auf regionaler Ebene am besten. Dies hat unser Pilotprojekt «Netzwerkaufbau inklusive Kultur» im Tessin von 2020-2021 gezeigt: Kulturinteressierte Manschen mit Behinderungen, Vertreter*innen von Kulturinstitutionen und von Behindertenverbänden diskutieren in niederschwelligen, partizipativen Workshops über Bedürfnisse, Interessen und Umsetzungsmöglichkeiten. Das daraus entstandene Netzwerk wirkt im Tessin weiter. Ebenso das entsprechende Netzwerkprojekt in der Ostschweiz, das wir im Juni 2022 abgeschlossen haben: Hier werden Projektteilnehmende im Laufe des Sommers einen Verein gründen, um die Arbeit fortzuführen. Zwei weitere regionale Netzwerkprojekte laufen demnächst an, in Neuchâtel und in Zürich.
Gleichzeitig befindet sich die Fachstelle Kultur inklusiv in einer Übergangsphase: Die Trägerschaft durch Pro Infirmis läuft Ende 2023 aus. Ob und wie «Kultur inklusiv» weitergeführt wird, wird derzeit diskutiert.
Abschliessend möchten wir noch wissen, welchen Beitrag kann Kultur und die künstlerisch-ästhetische Auseinandersetzung mit der nachhaltigen Inklusion für die Gesellschaft leisten? Wo sehen Sie die Grenzen?
Wir alle nutzen Kultur, selbst wenn wir uns dessen vielleicht nicht immer bewusst sind, zum Beispiel wenn wir Musik im Radio hören. Kultur erreicht also alle. Und sie spricht alle in einem positiv besetzten Kontext an: der Freizeit. Kulturakteur*innen verstehen sich zudem vielfach als Vorreiter*innen von gesellschaftlichen Veränderungsprozessen. Nehmen Menschen mit Behinderungen aktiv Teil an der Kultur, wirken sie in diesen Prozessen mit und bereichern so das Kulturschaffen ästhetisch durch ihre spezifischen Körper, Erfahrungen und Ideen. Dieses ungenutzte Potenzial liegt brach, wir sollten es endlich als Mehrwert verstehen. Die Grenzen sind allen voran in den Köpfen der sogenannt Normalen.
Das ZKM-Team bedankt sich herzlich für das Interview!
Alle Interviews im Überblick
Im Rahmen der Interviewreihe «Nachhaltigkeit in der Kultur» ist bereits erschienen:
- #1 mit Dr. Annett Baumast, Forscherin am Institut für Kultur- und Medienmanagement der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg und Gründerin der Beratungsfirma «baumast. kultur & nachhaltigkeit»
- #2 mit Sebastian Bogatu, Technischer Direktor des Opernhauses Zürich
- #3 mit Pia Viviani, Leiterin der Geschäftsstelle Happy Museums