Mitsprache statt Ausgrenzung
Die Leitbilder des Alters wandeln sich rasant: War noch vor wenigen Jahrzehnten vom «wohlverdienten Ruhestand» die Rede, so ist heute das «aktive Altern» gefragt. Der Politikwissenschaftler Emanuel Richter gibt dieser Formel in seinem Buch «Seniorendemokratie» eine eigene Färbung.
Die «Überalterung der Welt» sei eine der grossen Herausforderungen unserer Zeit, hält der Autor fest. Hier stockt der Rezensent bereits ein erstes Mal: Wird mit diesem Begriff nicht zum Ausdruck gebracht, dass die global in Erscheinung tretende demografische Alterung in erster Linie als Problem zu verstehen sei? Die Betrachtungsweise könnte doch auch eine vollkommen andere sein: Der Menschheitstraum vom langen Leben, das nicht von einem vorzeitigen Tod beendet wird, erweist sich in unserer Zeit in wachsendem Masse als Wirklichkeit. Gewiss nicht für alle Menschen, aber möglicherweise für einen zunehmenden Teil der Weltbevölkerung.
Prägend für das Buch von Emanuel Richter, der als Politikwissenschaftler an der Technischen Hochschule im deutschen Aachen wirkt, ist die Frage, wie es denn gelingen mag, dass die Gesellschaft die demografische Alterung verkraftet – und nicht an ihr zerbricht. Der Autor macht sich vor allem Sorgen um die demokratische Verfasstheit Deutschlands, aber auch anderer westlicher Staaten: Vertreten die immer zahlreicher werdenden Alten bloss eigensüchtig ihre eigenen Interessen oder können sie im Gegenteil zu einer Aktivierung der Demokratie beitragen?
Alter als Ressource
Der Begriff «Aktivierung» ist ein wichtiges Stichwort, denn in ihm drückt sich auch ein neues Verständnis der Rolle von alten Menschen in der Gesellschaft aus. (Der Autor schreibt durchgängig von «Senioren» und verzichtet «aus Gründen der besseren Lesbarkeit» auf die weibliche Form. Hier stockt der Rezensent ein weiteres Mal.) Der «Ruhestand» ist eine recht junge Erfindung der modernen Gesellschaften, der beispielsweise in der Schweiz erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Norm wurde. Angesichts neoliberaler Sparpolitik droht aber die Gefahr, dass «einstmalige Errungenschaften einer Ruhestandspolitik preisgegeben werden», fürchtet Richter. Die gesellschaftliche Sinnhaftigkeit des Ruhestands werde angezweifelt. Jetzt gehe es um «aktives Altern»!
Der Wandel der Leitbilder hat, so der Autor, nicht zuletzt mit der «Vermarktlichung» aller Lebensbereiche zu tun. So dränge man auch alternde Menschen, «eine nicht nachlassende Betriebsamkeit an den Tag zu legen». Da hat die Vorstellung, das Altern sei auf die Erholung von den Mühen des Erwerbslebens ausgerichtet, kaum noch einen Platz. Stattdessen ist die Rede vom «Alter als Ressource». Von den Seniorinnen und Senioren wird erwartet, dass sie dem «offenkundigen Makel der Alterung» durch Aktivität entgegenarbeiten.
Soziale Spaltung als Gefahr für die politische Partizipation
Das Ideal ist eine alterslose Gesellschaft, welche die Trennung zwischen Jugend, Erwachsenenphase und Rentenalter einebnet. Das Gelingen des Daseins scheint davon abzuhängen, ob die ins Alter kommenden Individuen es schaffen, ihre tatsächliche Alterung zu verbergen und gegebenenfalls auch zu bekämpfen. Selbstoptimierung im Sinne eines «erfolgreichen Alterns» steht hoch im Kurs und wird von einer «Anti-Ageing»-Industrie umfassend bedient. Tatsächlich: Viele Senioren und Seniorinnen verinnerlichen dieses Leitbild und erleben einen Zuwachs an Zufriedenheit.
Von diesem Prozess bleiben jene älteren Menschen ausgeschlossen, die über zu wenig materielle Ressourcen verfügen. Emanuel Richter nennt diesen Vorgang den «sozialen Spaltpilz»: Die Alterung schreibt bekanntlich frühere Statusunterschiede fort und kann auch neue soziale Verwerfungen mit sich bringen. Viele Seniorinnen und Senioren müssen nicht nur einen «materiellen Überlebenskampf» führen, sondern vielfach auch einen «aussichtslosen Kampf um die eigene Würde». Und hier legt der Autor den Finger in eine offene Wunde: die «Demokratiefähigkeit» älterer Menschen sei «an ein Mindestmass an sozialer Gleichheit und Integration gebunden».
Es muss verhindert werden, dass die unterschiedlichen Milieus vollkommen auseinanderdriften: da die wohlhabenden, gut situierten Senioren und Seniorinnen, die über vielfältige ökonomische und soziale Ressourcen verfügen, und dort die älteren Frauen und Männer, die gerade knapp über die Runden kommen. Denn eine solche Spaltung hat Folgen, wie sich an der unterschiedlichen Wahl- und Stimmbeteiligung zeigen lässt: Je weiter unten auf der sozialen Leiter eine Person steht, umso weniger wird sie sich in der Regel am politischen Leben beteiligen.
Aufruf zur aktiven Teilhabe
Angesichts einer wachsenden Gruppe von Menschen, die nicht mehr in den Produktions- und Reproduktionsprozess einbezogen sind und auf diese Weise über «späte Freiheiten» verfügen, scheint es dem Autor unabdingbar zu sein, dass diese auch gesellschaftliche und politische Gestaltungskraft erlangen. Emanuel Richter hofft auf nicht weniger als eine Erneuerung des Gemeinwesens – oder in seinen Worten: Die zunehmende Zahl von Seniorinnen und Senioren könne unter bestimmten Bedingungen «einen greifbaren demokratischen Gewinn erzielen und zu einer Stärkung der partizipativen Demokratie beitragen.»
Das Buch ist auf dem Hintergrund der deutschen Verhältnisse geschrieben, in denen die partizipativen Elemente der Demokratie eine wesentlich geringere Rolle als beispielsweise in der Schweiz spielen. Doch auch in unserem Land wird die Frage gestellt, wie Menschen sich einbringen können, die nicht mehr in erster Linie durch berufliche oder familiäre Rollen bestimmt sind.
Richter benennt eine beachtliche Zahl von Projekten und Organisationen, die deutlich machen sollen, was «Seniorendemokratie» in seinem Sinne bedeuten könnte. Dabei versucht er auch, dem «aktiven Altern» einen etwas anderen Sinn zu geben: Dieser Begriff sei nicht als «Formel für das Fitnesstraining unter juvenil getrimmten Senioren aufzufassen, sondern als genuin politischer Aufruf zur aktiven Teilhabe». Dabei zeige sich dann, dass solche Formen des Engagements durchaus gesundheitsfördernde Wirkungen haben.
Richters Plädoyer ist ein doppeltes: Sorgt dafür, dass sich der «soziale Spaltpilz» nicht breitmacht, und sorgt dafür, dass die Seniorinnen und Senioren ihren Platz in Gesellschaft und Politik finden! Sein Appell ist argumentativ gut untermauert und in vielen Punkten auch überzeugend. Die Frage bleibt, wie daraus so etwas wie ein «Aktionsprogramm» werden könnte – und wer sich dessen annimmt.
Emanuel Richter
Seniorendemokratie: die Überalterung der Gesellschaft und ihre Folgen für die Politik.
Berlin: Suhrkamp, 2020. 261 S.
Das Buch in ZHAW swisscovery
Zum Rezensenten
Kurt Seifert ist freier Publizist mit Schwerpunkt Alterspolitik und Autor des Buchs «Eine Jahrhundertgeschichte: Pro Senectute und die Schweiz 1917-2017».