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Gesundheit

Virtueller Besuch bei einer Klientin

Im Bachelorstudiengang Ergotherapie kommt erstmals für einen Unterricht Virtual Reality zum Einsatz. Dabei tauchen die Studierenden ganz in den Alltag einer Klientin ein und erleben hautnah die Arbeit ihrer Therapeutin.

Im Hintergrund ein Duschvorhang. Der Boden ist mit Fliesen belegt. Auf diesen liegt eine Duschbrause und daneben eine Duschcrème. Dreht man den Kopf nach links, erkennt man einen Abfluss. Etwas weiter rechts stehen Flaschen mit Putzmitteln – ebenfalls am Boden. Die Szenerie mutet merkwürdig an. Wer da wohl wohnt? Wie lebt er oder sie? Und weshalb steht alles auf dem Boden? 

Bevor das Gedankenkarussell weitergeht, ertönt eine Stimme aus dem Off: «Bitte ziehen Sie Brille und Kopfhörer nun wieder aus». Die Stimme gehört Nicole Markwalder. Sie unterrichtet an diesem Morgen Ergotherapie-Studierende im 1. Semester im Professional Reasoning. Das Besondere dabei: Anstatt den Unterricht wie bisher als reine Vorlesung zu gestalten, setzen Markwalder und ihre Kolleginnen Daniela Senn und Maria Auer neu auf Virtual Reality (VR). Mithilfe von VR-Brillen tauchen die Studierenden in den Alltag der Klientin Yvonne Luginbühl ein. Die 55-Jährige ist wegen einer cerebralen Bewegungsstörung auf einen Rollstuhl angewiesen und wird regelmässig von der Ergotherapeutin Silvia Buchli besucht. 

Denkprozesse als therapeutisches Werkzeug

In der nächsten Film-Sequenz erleben die Studierenden, wie Yvonne Luginbühl im Rollstuhl sitzend eine Wähe aus dem Ofen nimmt. Silvia Buchli steht hinter ihr und beobachtet. Dabei hören die Studierenden Buchlis Gedanken als gesprochenen Text. So bemerkt die Ergotherapeutin zum Beispiel, dass Yvonne zwar selber die Topfhandschuhe aus einer Schublade nehmen konnte, diese jedoch viel zu voll ist. Auch das Wackeln des Gitterrosts registriert sie und die enorme Körperspannung, mit der Yvonne Luginbühl sehr langsam, aber präzis die Wähe auf ihre mit einem Tuch geschützten Knie zieht. 

«Wie ist es euch bei dieser Szene ergangen? Was ist Ihnen aufgefallen? Woran erinnern Sie sich?» Stück für Stück führt Nicole Markwalder die Studierenden an ihre Wahrnehmungen, Beobachtungen und Reflexionen heran. Diese Denkprozesse sind zentral. Sie prägen, wie die angehenden Ergotherapeutinnen und -therapeuten später ihre Interventionen planen, ausführen und reflektieren werden. Der Fachbegriff für die Gesamtheit dieser kognitiven Vorgänge heisst «Professional Reasoning». 

Abstrakte Sachverhalte erlebbar machen

Doch warum braucht es dafür Virtual Reality? Maria Auer, Modulverantwortliche und Initiantin des Pilotunterrichts am Institut für Ergotherapie, sagt dazu: «Professional Reasoning ist ein komplexes Konzept. Dabei werden zahlreiche Untertypen unterschieden – etwa das diagnostische Reasoning, das konditionale, pragmatische, soziale oder interaktive Reasoning. Diese auseinanderzuhalten und wirklich zu begreifen, was damit gemeint ist, war bisher für die Studierenden zu Beginn ihrer Ausbildung schwierig. Gleichzeitig ist das Reasoning unglaublich wichtig und begleitet sie durch ihr ganzes Studium und selbstverständlich ihre Berufslaufbahn. Deshalb haben wir nach einem Weg gesucht, die Theorie sicht- respektive erlebbarer zu machen». Dank dem 360-Grad Video haben die Studierenden zudem so früh die Möglichkeit, eine Klientin in ihrem Zuhause zu besuchen.

«Total in diese Welt eingetaucht»

Und was sagen die Studierenden zur VR-Erfahrung? «Ich war fast erstaunt, dass es nicht nach Wähe gerochen hat», «Ich war körperlich angespannt, bis die Wähe aus dem Ofen war» oder «Ich hab gemerkt, dass ich die Klientin unterschätzt habe». Die Meldungen sprudeln nur so heraus und sind vielschichtig. Sicher ist, dass die Studierenden den Unterricht geschätzt haben. Dieser sei erfrischend anders gewesen und habe, wie ein Student sagt, «den Entdeckergeist geweckt und einen ganz neuen Ansatz präsentiert, sich mit der Materie auseinanderzusetzen». Und die Dozierenden? Sie sind ob den positiven Rückmeldungen zufrieden, wollen den Unterricht jedoch noch genau analysieren. Klar ist jedoch bereits, dass im März 2021 ein nächster Unterrichtsblock mit VR-Brillen geplant ist. Dabei geht es um eine Wohnraumabklärung  bei einer Klientin oder bei einem Klienten. Auch da wird das genaue Beobachten zentral sein. So könnten etwa die Putzmittelflaschen in Yvonne Luginbühls Badezimmer bei jemand anderem eine Stolperfalle darstellen.