Digital Health für Eltern mit Migrationserfahrung
Wie können digitale Gesundheitsangebote (werdenden) Eltern mit Migrationserfahrung den Zugang zu Geburtshilfe, Pflege, Ergotherapie, Physiotherapie und Pädiatrie erleichtern? Eine Studie im Bereich Digital Health untersucht Bedürfnisse, Barrieren und Lösungsansätze in der schweizerischen Gesundheitsversorgung.
Hintergrund

Etwa ein Fünftel der Schweizer Bevölkerung hat eine Migrationserfahrung. Obwohl Migrant:innen meist zu den gesündesten Individuen in ihren Ursprungsländern zählen und bei der Ankunft in der Schweiz oft einen ähnlich guten oder sogar besseren Gesundheitszustand als Einheimische aufweisen, geht dieser Vorteil mit der Zeit häufig verloren.
Dafür gibt es mehrere Gründe: Der sozioökonomische Hintergrund, der Aufenthaltsstatus, aber auch Erfahrungen von sozialer Isolation oder Diskriminierung wirken sich negativ auf die Gesundheit aus. Besonders betroffen sind Menschen, die keine schweizerische Landessprache sprechen. Sprachliche Barrieren stellen eine hohe Hürde im Bereich der Gesundheitsversorgung dar. Sie erschweren den Zugang zur Gesundheitsversorgung und Informationen und behindern eine informierte Zustimmung zu Therapien oder Behandlungen.
Aktuelle Studien zeigen jedoch auch, dass Smartphones wichtige Orientierungs- und Kommunikationshilfen für Menschen mit Migrationserfahrung sind, besonders für Personen mit Fluchterfahrung.
Eine Übersicht über das Projekt finden Sie im Projektflyer zum Download.
Zielsetzung
Ziel des Projekts ist die systematische und evidenzbasierte Entwicklung digitaler Gesundheitsangebote für werdende Eltern und Eltern mit Kleinkindern, die aufgrund kultureller und sprachlicher Barrieren im Zugang zur Versorgung in der Geburtshilfe, Pflege, Ergotherapie, Physiotherapie und Pädiatrie benachteiligt sind.
Die Projektergebnisse im Bereich Digital Health sollen dazu beitragen, die Wirksamkeit künftiger digitaler Lösungen zu erhöhen, um die Gesundheitskompetenz von (werdenden) Eltern nachhaltig zu stärken.
Methode
In der Entwicklung der digital gestützten Versorgungsangebote orientieren wir uns am Model zur Entwicklung und Evaluation komplexer Interventionen. Diese bestehen aus mehreren, voneinander abhängigen und sich wechselseitig beeinflussenden Massnahmen bzw. Komponenten. Sie werden systematisch durch theoretische Vorarbeiten und aufeinander aufbauende Vorstudien entwickelt.
Projektbeitrag des Instituts für Hebammenwissenschaft und reproduktive Gesundheit
Die Forschungsstelle Hebammenwissenschaft und reproduktive Gesundheit zielt auf die Verbesserung der Health Literacy werdender Eltern während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett ab.
Seit mehreren Jahren zeigen Studien, dass Frauen mit Migrationserfahrung und ihre Neugeborenen schlechtere geburtshilfliche Outcomes haben im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung. Diese Ergebnisse werden auf den erschwerten Zugang zur Gesundheitsinformation und Betreuung aufgrund sprachlichen und kulturellen Barrieren zurückgeführt.
Im Rahmen des Projekts werden die Potentiale digital gestützter Gesundheitsinformationen geprüft und für werdende Eltern, die aufgrund kultureller und sprachlicher Barrieren im Zugang zur geburtshilflichen Versorgung benachteiligt sind, weiterentwickelt.
Projektbeitrag des Instituts für Gesundheitswissenschaften
Das Institut für Gesundheitswissenschaften erhebt zunächst mittels einer wissenschaftlichen Literaturrecherche die Evidenz für den gesundheitlichen Nutzen von «maternal and child health handbooks». Im zweiten Schritt wird die Nutzung digitaler Medien durch Migrationsbevölkerungen in Europa untersucht. In Einzel- und Gruppeninterviews werden Verständnis, Verwendung und der potenzielle Nutzen digitaler «maternal and child health handbooks» im Hinblick auf die Gesundheit von Mutter und Kind sowie den Zugang zur Gesundheitsversorgung für Mütter und Familien mit Migrationshintergrund in der Schweiz analysiert. Die Ergebnisse fliessen in die Entwicklung des digitalen Gesundheitshefts SGP ein.
Projektbeitrag des Instituts für Ergotherapie
Das Projekt der Forschungsstelle Ergotherapie hat zum Ziel, Gesundheitsprobleme von Kindern mit Migrations- und/oder Fluchterfahrungen zu identifizieren.
In einer ersten Phase werden qualitative Interviews mit den Kindern, ihren Eltern und Lehrpersonen durchgeführt, um die Gesundheitsprobleme aus verschiedenen Perspektiven zu identifizieren. Aus den Interviews werden Vorschläge abgeleitet, wie diesen Gesundheitsproblemen mit möglichen (digital) gestützten Gesundheitsangeboten begegnet werden kann.
Projektbeitrag des Institut für Pflege
Eltern von gehörlosen Kindern stehen vor der Herausforderung, sich mit ihrem Kind zu verständigen. Für das Teilprojekt soll in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Hörbehindertenverband Sonos eine Lehreinheit zu gesundheitsspezifischen Fragen in Gebärdensprache entwickelt werden. Damit können sich vor allem auch Eltern mit Migrationshintergrund Wissen über das Gesundheitssystem aneignen, um ihr hörbehindertes Kind in das Schweizer Gesundheitswesen zu integrieren.
Neben der Identifizierung von vorhandenen Kenntnissen (Literatursichtung und Expertengespräche) werden Fokusgruppeninterviews mit Stakeholdern aus dem Gesundheitswesen geführt. Die Ergebnisse stellen Grundlagen dar, um die Gesundheitskompetenz von Eltern mit Migrationshintergrund im Umgang mit Gesundheitsfragen zu stärken. Gleichzeitig soll die Kommunikation zwischen Eltern und ihrem hörbehinderten Kind unterstützt werden.
Projekt des Instituts für Physiotherapie
Das Projekt der Forschungsstelle Physiotherapie beschäftigt sich mit dem Thema Schmerzen. Denn Schmerzen zählen einerseits zu den häufigsten Beschwerdebildern bei Migrant:innen und deren Angehörigen, andererseits stellen Schmerzen eine grosse Herausforderung für Gesundfachpersonen dar, weil deren Ursachen sehr vielfältig sind.
In dem Projekt fassen wir Schmerzen nicht als etwas Lokales und Begrenztes auf, sondern als etwas Komplexes, das biografische, soziale und kulturelle Kontexte einschliesst. Diese breitere Definition von Schmerzen ermöglicht es, dass wir ein vollständigeres Verständnis und eine angemessene physiotherapeutische Behandlung entwickeln können.
Ergebnisse
Durch die Teilprojekte im Bereich Digital Health konnten wir gesundheitliche Probleme identifizieren, von denen Menschen mit Migrationserfahrung besonders betroffen sind. Dieser Zusammenhang wurde jedoch im Laufe der Projektarbeit differenziert, indem wir das Konstrukt der Migrationsbevölkerung detailliert aufarbeiteten. Deutlich wurde, dass der Aufenthaltsstatus, das soziale Umfeld, die individuellen Vorerfahrungen, die Sprachekenntnisse und die Gesundheitskompetenz grossen Einfluss auf gesundheitliche Ungleichheiten haben und bei der Entwicklung digitaler Gesundheitsangebote berücksichtigt werden sollten.
Des Weiteren haben wir das Wissen zu bestehenden digital gestützten Versorgungsangeboten in der Schweiz aktualisiert und systematisiert. Unsere Recherchen ergaben, dass digitale Lösungen vor allem dazu beitragen sollen, Orientierung im komplexen Schweizer Gesundheitssystem zu bieten, über geeignete Versorgungsangebote zu informieren und sprachliche Hürde abzubauen.
Die Literaturrecherche machte zudem deutlich, dass digitale Gesundheitsangebote international bereits häufig für Migrant:innen oder Angehörige kultureller Minderheiten eingesetzt werden. Unsere Analysen zeigten, wie wichtig es ist, die betroffenen Menschen aktiv in die Entwicklung solcher digitalen Angebote einzubeziehen, um die Wirksamkeit dieser Interventionen sicherzustellen.
Publikationen
-
Radu, Irina; Scheermesser, Mandy; Spiess, Martina Rebekka; Schulze, Christina; Händler-Schuster, Daniela; Pehlke-Milde, Jessica,
2023.
International Journal of Environmental Research and Public Health.
20(20), S. 6962.
Verfügbar unter: https://doi.org/10.3390/ijerph20206962
-
Zysset, Annina; Schwärzler, Patricia; Dratva, Julia,
2023.
International Journal of Environmental Research and Public Health.
20(19), S. 6804.
Verfügbar unter: https://doi.org/10.3390/ijerph20196804
-
Radu, Irina; Scheermesser, Mandy; Spiess, Martina; Schulze, Christina; Händler-Schuster, Daniela; Pehlke-Milde, Jessica,
2023.
In:
7. Winterthurer Hebammensymposium, Winterthur, Schweiz, 21. Januar 2023.
-
Schermann, K.; Heinrich, A.; Händler-Schuster, D.,
2022.
Pflegewissenschaft.
24(5), S. 271-277.
-
Radu, Irina; Pehlke-Milde, Jessica,
2021.
Digitale Tools für Frauen mit Migrationserfahrung in der Schwangerschaftsversorgung.
In:
6. Winterthurer Hebammensymposium, Winterthur, 11. September 2021.
Projektorganisation
Projektleitung
- Prof. Dr. Jessica Pehlke-Milde, ZHAW Gesundheit, Institut für Hebammenwissenschaft und reproduktive Gesundheit
Co-Projektleitung
- Prof. Dr. Julia Dratva, ZHAW Gesundheit, Institut für Gesundheitswissenschaften
- Prof. Dr. Daniela Händler-Schuster, ZHAW Gesundheit, Institut für Pflege
- Mandy Scheermesser, ZHAW Gesundheit, Institut für Physiotherapie
- Dr. Christina Schulze, ZHAW Gesundheit, Institut für Ergotherapie
Projektteam
- Irina Radu, ZHAW Gesundheit, Institut für Hebammenwissenschaft und reproduktive Gesundheit
- Dr. Patricia Schwärzler, ZHAW Gesundheit, Forschungsstelle Gesundheitswissenschaften
- Dr. Martina Spiess, ZHAW Gesundheit, Forschungsstelle Ergotherapie
- Dr. Annina Zysset, ZHAW Gesundheit, Forschungsstelle Gesundheitswissenschaften
Netzwerkpartner
- Prof. Dr. Agnes von Wyl, ZHAW Angewandte Psychologie
- Prof. Dr. Miryam Eser Davolio, ZHAW Soziale Arbeit
- Prof. Dr. Ulla Kleinberger, ZHAW Angewandte Linguistik
Projektdauer
- 06/2019–08/2021
Finanzierung
- Das Projekt wird gefördert im Rahmen des ZHAW Forschungsschwerpunktes «Gesellschaftliche Integration»