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Gesundheit

«Wenn ich mich so allein fühle, tut es mir fast körperlich weh»

Einsamkeit ist bei pflegenden Angehörigen weit verbreitet. Doch wie erleben sie diesen Zustand? Die Pflegefachfrau Flurina Chistell hat im Rahmen ihrer Masterarbeit eine qualitative Studie zum Thema durchgeführt und mit 13 pflegenden Angehörigen von chronisch kranken Menschen gesprochen.

Flurina Chistell, Sie haben sich in Ihrer Masterarbeit mit der Einsamkeit bei pflegenden Angehörigen befasst. Gibt es Zahlen dazu, wie stark diese verbreitet ist?

Flurina Chistell: Konkrete Zahlen zur Schweiz gibt es nicht, nein. Dass kann daran liegen, dass Einsamkeit immer noch ein Tabuthema ist – obwohl das Phänomen weltweit zunimmt und zu einem gesellschaftlichen Problem wird. Einige Studien haben dieses zwar beleuchtet. Es gibt jedoch noch kein tieferes Verständnis zu den konkreten Einsamkeitserfahrungen. Mit meiner Studie habe ich versucht, diese Lücke zu füllen. Wie weit verbreitet das Phänomen ist, zeigt sich auch in meiner Untersuchung. Alle 13 pflegenden Angehörigen, die ich interviewt habe, leiden unter Einsamkeit. Und zwar unabhängig von ihrem Alter, Betreuungsdauer und der Beziehungsform. Das ist ein schwerwiegendes Problem. Denn man weiss: Einsamkeit hat negative Auswirkungen auf die physische und psychische Gesundheit. Dazu gehören etwa Depressionen, Schlafstörungen, Herzkreislauferkrankungen und generell ein erhöhtes Krankheits- und Sterberisiko.

Sie haben den Fokus darauf gelegt, wie pflegende Angehörige Einsamkeit erleben. Wie äussert sich diese konkret?

In den Gesprächen zeigte sich das Phänomen in allen drei bekannten Formen: soziale, emotionale und existenzielle Einsamkeit. Mehrere Studienteilnehmende litten unter der sozialen Einsamkeit, da die Qualität der sozialen Kontakte nicht mehr den individuellen Bedürfnissen entsprach. Die Anzahl der Kontakte ging zurück, das soziale Netzwerk wurde brüchig. Verschiedene Faktoren trugen dazu bei: die Berufstätigkeit wurde reduziert oder aufgegeben, Vereinsarbeit und Hobbies kamen zu kurz. Weiter hat die Studie aufgezeigt, dass die Teilnehmenden aus Sorge und aufgrund ihres schlechten Gewissens das Haus immer seltener verliessen. Meistens stand die betreute Person im Zentrum. Die pflegenden Angehörigen wurden häufig nicht gefragt, wie’s ihnen geht, sondern: Wie geht’s deinem Vater, deiner Frau?

Haben sich die Angehörigen also auch emotional einsam gefühlt?

Ja, die emotionale Einsamkeit war teilweise sehr stark ausgeprägt. Mit der zunehmenden Pflegebedürftigkeit und der daraus resultierenden Abhängigkeit veränderte sich die Beziehung. Es wurde als schmerzhaft erlebt, wenn nach vielen Jahren des gemeinsamen Lebens die Zweisamkeit immer mehr schwand. Ein weiterer Grund war die Veränderung der eigenen Rolle. Vor allem Frauen erwähnten, dass sie nicht mehr Frau oder Tochter seien – sondern eine Mutterrolle innehätten. Mit diesem Rollenwechsel – und auch durch die Veränderung der betreuten Person – konnten häufig auch die Bedürfnisse nach emotionaler Nähe, Austausch oder körperlicher Zärtlichkeit nicht mehr befriedigt werden. Hinzu kam bei vielen auch die existenzielle Einsamkeit.

Inwiefern?

Die existenzielle Einsamkeit kam in der Perspektivenlosigkeit, was eigene Ziele, Wünsche und Pläne betrifft, zum Vorschein. Alle befragten Angehörigen berichteten, nur noch im Hier und Jetzt zu leben, zu denken und zu funktionieren. Den pflegenden Angehörigen ist oft nicht bewusst, wie stark die neue Rolle sie beansprucht und überlastet, wie der Bedarf an Betreuung und Pflege unbemerkt zunimmt.

Sie beschreiben Einsamkeit als stagnierendes, monotones und schmerzhaftes Leben. Wie meinen Sie das konkret?

Mehrere Angehörige beschrieben eindrücklich, alles aufgegeben zu haben und ein eintöniges Leben zu führen. Sie haben das gewohnte gemeinsame Leben verloren, stellten Wünsche und Träume zurück, reduzierten ihre Berufstätigkeit und Freizeitaktivitäten oder stellten diese ganz ein. Es dreht sich alles nur noch um die chronische Erkrankung, das Leiden der betreuten Person. Was den Schmerz anbelangt, so beschrieb es eine Frau im Interview so: «Wenn ich mich so allein fühle, tut es mir fast körperlich weh.» In der Literatur wird beschrieben, dass bei Einsamkeit die gleichen Hirnareale aktiviert werden wie bei körperlichem Schmerz. Deshalb kann Einsamkeit auch als eine Art Schmerz verstanden werden.

Einsamkeit wird bei den interviewten Personen von anderen Emotionen begleitet. Welches sind die wichtigsten?

Hilflosigkeit und Ohnmacht wurden häufig genannt. Dann aber auch Angst sowie Frust und Wut wegen der Situation oder gegenüber der betreuten Person. Auch Trauer ist ein häufiges Gefühl: Trauer über den Verlust des gewohnten Lebens und aufgrund der Veränderung der zu betreuenden Person.

Gab es Aussagen, die Sie besonders aufgewühlt haben?

Zwei Aussagen haben mich sehr berührt und nachdenklich gemacht. Die eine hat eine Tochter gemacht: «Ich habe das Gefühl, das ich alles aufgegeben habe. Es ist nichts mehr da.» Die zweite habe ich bereits erwähnt, der körperliche Schmerz, den die Einsamkeit bei einer befragten Person auslöst. Beeindruckt hat mich aber auch, dass einzelne Personen sich des Risikos der Einsamkeit bewusst waren und Strategien entwickelt haben, diese zu bekämpfen und um sich selbst Sorge zu tragen. So meinte eine Frau, wenn ihr die Situation zu viel wurde: «Ich stehe auf und sage Nein. Ich nehme mein Leben in die Hand.»

Wie können Gesundheitsfachpersonen Angehörige unterstützen, damit sie nicht in der Einsamkeit versinken?

Grundsätzlich braucht es eine gesellschaftliche Sensibilisierung für das Thema, das betrifft alle, nicht nur Health Professionals. Health Professionals nehmen aber eine zentrale Rolle dabei ein, Einsamkeit bei pflegenden Angehörigen zu erkennen. Das Wissen über das Einsamkeitserleben ist wesentlich, um die Angehörigen frühzeitig und bedürfnisgerecht zu unterstützen und zu begleiten. Da sich Einsamkeit in allen Phasen der Krankheitsverlaufs entwickeln kann, ist es notwendig, die erkrankte Person und die Angehörigen bereits bei der Diagnosestellung für das Thema zu sensibilisieren.

Wie genau?

Vorhandene Strategien und Erfahrungen der Angehörigen sollen anerkannt und wertgeschätzt werden. Es geht darum, sie beratend zu stärken und sie dabei zu unterstützen, individuelle Bewältigungsstrategien für den Alltag zu entwickeln. Optionen zur Entlastung sollen aufgezeigt werden und Informationen zu konkreten Hilfsangeboten abgegeben werden. Dabei gilt es, interdisziplinär zu arbeiten, sei dies mit spezialisierten Fachpersonen oder im Rahmen von Selbsthilfegruppen. Aber diese Aufgabe kann schwierig sein: Die Hemmschwelle, Hilfe anzunehmen, ist oftmals sehr gross. Und sie wird teilweise auch von der betreuten Person gar nicht gewollt.

Zur Person

Flurina Chistell hat den Master of Science in Pflege an der ZHAW absolviert und arbeitet am Regionalspital Surselva in Ilanz (GR) als diplomierte Pflegefachfrau FH. Ihre Masterarbeit zum Thema Einsamkeit bei pflegenden Angehörigen wurde im Journal BMC Nursing unter dem Titel «Loneliness is a monotonous thing”: descriptive qualitative research on the loneliness of caring relatives“ veröffentlicht.