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Gesundheit

«An der wissenschaftlichen Arbeit gefällt mir die Abwechslung»

Andrea Aegerter hat als eine der ersten Physiotherapeut:innen das Doktoratsprogramm «Care & Rehabilitation Sciences» abgeschlossen. Im Interview erzählt sie, warum sie sich für ein Doktorat entschieden hat und wie sie mit ihrer Arbeit Nackenschmerzen bei Büroangestellten vermindern möchte.

Frau Aegerter, was hat Sie motiviert, sich in die wissenschaftliche Arbeit zu vertiefen?

Andrea Aegerter: Mir wird schnell langweilig und ich entdecke gerne Neues. Ich habe als Physiotherapeutin zuerst einige Zeit in einer Sportphysiotherapiepraxis und danach im Spital gearbeitet. Das Unvorhersehbare an der Arbeit im Spital hat mir gefallen, kein Tag war gleich wie der andere. Parallel dazu habe ich mich für das Masterstudium eingeschrieben und dabei die Freude am wissenschaftlichen Arbeiten entdeckt. Die verschiedenen Aufgaben machen mir Spass: Am Vormittag mache ich mit Patient:innen Nackenübungen, am Nachmittag erstelle ich statistische Auswertungen oder denke die Projektplanung durch.

Warum sind Sie Physiotherapeutin geworden?

Das war Zufall. Nach der Matura wollte ich Medizin studieren. Als Probelauf für den Numerus Clausus absolvierte ich das Aufnahmeverfahren für den Studiengang Physiotherapie, wurde tatsächlich angenommen und bin bei diesem Studium geblieben. Nach dem Studium habe ich sofort eine Anstellung in einer Sportphysiotherapiepraxis erhalten und wurde dort auf eine Informationsveranstaltung zum Masterstudiengang aufmerksam. Zusammen mit einem Kollegen bin ich hingegangen – und wir haben uns beide eingeschrieben.

Warum haben Sie sich für ein Doktorat entschieden?

Das war nicht geplant, ich war im richtigen Moment am richtigen Ort. Nach meinem Masterabschluss wurde das Doktoratsprogramm «Care & Rehabilitation Sciences» als Angebot der Universität Zürich in Kooperation mit der ZHAW zum ersten Mal durchgeführt. Endlich war es möglich, in der Schweiz ein Doktorat als Health Professional zu absolvieren. Und gleichzeitig erhielt ich die Gelegenheit, beim Projekt «Prävention und Intervention von Nackenschmerzen bei Büroangestellten in der Schweiz» (NEXpro) mitzuarbeiten. Schlussendlich haben mich aber besonders zwei Faktoren dazu gebracht, ein Doktorat anzustreben. Erstens möchte ich den Beruf selbst und die Forschung in der Physiotherapie voranbringen. Zweitens haben mich viele Menschen während meines Studiums begleitet, mich inspiriert und mir die Freude am wissenschaftlichen Arbeiten vermittelt. Diese Freude möchte ich gerne weitergeben.

Sie sind Physiotherapeutin, haben Ihre Doktorarbeit aber am ZHAW Institut für Public Health geschrieben. Warum?

Am ZHAW Institut für Public Health arbeiten Fachpersonen aus verschiedenen Professionen mit, darunter Psychologinnen, Mediziner, Soziologinnen, Gesundheitsökonomen und eben Physiotherapeutinnen. Mein Doktoratsprojekt NEXpro ist dort angesiedelt und kombiniert diese Fachbereiche.

Erzählen Sie von Ihrem Doktoratsprojekt.

NEXpro ist ein gemeinsames Projekt der ZHAW und der Universität Bern, finanziert wird es über den Schweizerischen Nationalfonds SNF. Nackenschmerzen sind bei Büroangestellten ein weit verbreitetes Problem, gleichzeitig arbeiten mehr Personen im Büro als noch vor einigen Jahren. Darum untersuchen wir, wie wir Nackenschmerzen reduzieren und die Produktivität der Betroffenen verbessern können.

Wie gehen Sie dabei vor?

Wir wenden klassische Kraftübungen an und richten den Arbeitsplatz ergonomisch ein. Zudem möchten wir die Gesundheitskompetenzen der Mitarbeitenden verbessern, sie motivieren, ihr Gesundheitsverhalten zu ändern, indem wir sie über Themen wie Schlaf und Bewegung oder den Umgang mit Stress schulen. Denn diese Faktoren können Einfluss auf Nackenschmerzen haben. Dies machen wir während 12 Wochen und untersuchen, ob wir auf diesem Weg die Nackenschmerzen verringern können.

Und ist es Ihnen gelungen?

Das können Sie in meiner Doktorarbeit nachlesen (lacht). Ja, es ist uns gelungen, Nackenschmerzen bei Büroangestellten zu reduzieren und gleichzeitig die Produktivität zu verbessern. Wir führen aktuell sogar ein kleines Folgeprojekt an der Universität Bern durch, um unsere Idee weiterzuentwickeln.

Was möchten Sie mit den Erkenntnissen aus Ihrer Arbeit erreichen?

Die starke Verbreitung von Nackenschmerzen bei Büroangestellten haben bis jetzt verschiedene Studien aufgezeigt. Wissenschaftlich noch unzureichend erforscht ist aber, welche Massnahmen Schmerzen vorbeugen und gleichzeitig die Produktivität der Betroffenen erhöhen. Mit unserer Studie möchten wir die Betroffenen befähigen, ihre durch Nackenschmerzen verursachte reduzierte Leistungsfähigkeit zu verbessern und ihre Fehlzeiten zu reduzieren. Dadurch möchten wir auch die Lebensqualität der Mitarbeitenden mit Nackenschmerzen verbessern, ihre Arbeitszufriedenheit erhöhen und den Arbeitsstress reduzieren. Und natürlich auch den Nackenschmerz selbst verringern. Kurz gesagt: Wir möchten, dass es den Büroangestellten besser geht und dass auch die Arbeitgeber:innen wissen, was sie unternehmen können und welche Vorteile sich daraus ergeben.

Während der Pandemie haben viele im Homeoffice gearbeitet. Wie hat sich das auf Ihr Doktoratsprojekt ausgewirkt?

Die Homeofficepflicht war für uns ein Tiefschlag, denn unser Projekt sollte in Büros durchgeführt werden. Aber wir konnten die Studie zum Glück hybrid weiterziehen und haben so nun auch Daten aus dem Homeoffice. Diese Daten werden uns zeigen, ob der sogenannte Präsentismus, also trotz Unwohlsein zum Beispiel wegen Nackenschmerzen zu arbeiten, durch die Möglichkeit von Homeoffice ausgeprägter geworden ist. Bis jetzt gibt es wenig Forschung darüber, die meisten Arbeiten fokussieren sich auf den Absentismus, also auf die Fehlzeiten. Gleichzeitig haben wir Erkenntnisse über Nackenschmerzen im Homeoffice gewonnen.

Sie haben drei Jahre an Ihrem Doktorat gearbeitet. Wie konnten Sie sich motivieren, eine solch umfangreiche Doktorarbeit zu schreiben?

Der Austausch mit anderen Doktorand:innen hat mir Spass gemacht und mich immer wieder motiviert. Es tut gut zu sehen, dass es den anderen gleich geht. Und es gab zwischendurch auch Phasen, in denen ich nicht so motiviert war, und andere, die sehr anstrengend waren. Aber schlussendlich gehen auch die intensivsten Zeiten vorbei. Ich habe für meine Doktorarbeit mehrere Forschungsartikel geschrieben und diese in einer Einleitung und Diskussion zusammengefasst. Die einzelnen Artikel konnte ich zwischendurch abschliessen, so war die Arbeitsmenge für mich absehbarer.

Gab es auch Momente, in den Sie aufgeben wollten?

Aufgeben ist ein zu hartes Wort. Aber es gab Tiefpunkte. Der Weggang meiner Projektpartnerin war einer, der Weggang von Projektleiter Markus Melloh nach Neuseeland war der zweite. Wir haben dann aber gute Wege gefunden, trotz Zeitverschiebung zusammen weiterzuarbeiten. Der Lockdown war ebenfalls eine schwierige Zeit, aber auch hier haben wir nach dem ersten Schock eine gute Lösung gefunden. Tiefschläge gehören zum Leben und auch zu einer solchen Arbeit.

Was haben Sie für Pläne nach Ihrem Doktorat?

Diesen Herbst mache ich einen Forschungsaufenthalt an der University of Wellington in Neuseeland. Ich werde die Zeit nutzen, um weiter über Nackenschmerzen zu forschen. Auf der Rückreise in die Schweiz besuche ich eine Konferenz und andere Forschungsgruppen in Melbourne und Sydney. Und ich bin noch ein Jahr für das Projekt NEXpro angestellt, das möchte ich gerne abschliessen. An der Universität Bern kann ich parallel dazu ein ähnliches digitales Projekt durchführen, für das ich Forschungsgelder gewinnen konnte. Danach werde ich entscheiden, wie es weitergehen soll. Ich würde gerne in der Forschung bleiben, aber auch die Lehre reizt mich.

Welche Tipps würden Sie angehenden Doktorand:innen mit auf den Weg geben?

Die Motivation, eine umfangreiche wissenschaftliche Arbeit zu schreiben, ist die Grundvoraussetzung. Mir persönlich ist es sehr wichtig, in einem guten Team zu arbeiten. Die Organisation und Koordination des Projektes ist ein zentraler Punkt, alle Termine aneinander vorbeizubringen und einzuhalten, ist nicht einfach. Dazu muss man viel vorausdenken und sich selbst gut organisieren können. Und es braucht Pragmatismus, um bei der Arbeit weiterzukommen und nicht an den Details hängen zu bleiben.

In der SRF-Sendung «Puls» sind Sie als Expertin für Rückenschmerzen aufgetreten. Fällt es Ihnen leicht, wissenschaftliche Sachverhalte einem breiten Publikum zu vermitteln?

Ich denke, es ist wichtig, die wissenschaftliche und die breit verständliche Sprache zu kombinieren. Im Berufsalltag als Physiotherapeutin geht es mir genauso. Mit einem Kind muss ich ganz anders sprechen als mit jemandem mit medizinischem Hintergrund. Wir forschen für die Bürger:innen, darum sind wir als Forschende in der Pflicht, unser Wissen allgemeinverständlich darzustellen.