Den Autopiloten in interkulturellen Situationen ausschalten
Bei interkulturellen Begegnungen kann es rasch zu Missverständnissen und Konflikten kommen – auch in der Arbeit von Gesundheitsfachpersonen. Ein unter Beteiligung des ZHAW-Departements Gesundheit realisiertes Buch soll hier Abhilfe schaffen. Vor kurzem wurde das Buch im Rahmen einer Online-Vernissage einem internationalen Publikum vorgestellt.
Herr Feuerstein, ein 62-jähriger Jude, hat Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium. Er und seine chinesische Frau Ling engagieren die Zürcher Spitex für die Pflege zuhause. Eines Nachmittags, während Ling nicht zu Hause ist, beklagt sich Herr Feuerstein über starke, unerträgliche Schmerzen. Mit seiner Zustimmung und in Anwesenheit anderer Familienmitglieder verabreicht ihm der Spezialist, mit dem die Spitex zusammenarbeitet, eine höhere Dosis Morphium als bisher. Zwei Tage später stirbt Herr Feuerstein. Seine Frau Ling gibt der verantwortlichen Pflegefachperson Rosy und ihrem Team die Schuld am Tod ihres Mannes. Sie sagt, dass das Morphium ihn schläfrig gemacht habe und er nicht mehr klar im Kopf gewesen sei. Und sie glaubt, dass, wenn ihr Mann traditionelle chinesische Medizin in Anspruch genommen hätte, er länger gelebt oder zumindest einen klaren Kopf im Sterben gehabt hätte.
Fallbeispiele sollen zum Nachdenken anregen
Die Geschichte von Herrn Feuerstein und seiner Frau ist eines von insgesamt 25 Fallbeispielen im Buch «Intercultural Interactions for Health Professions / Interkulturelle Begegnungen in Gesundheitsberufen». Das Buch möchte Gesundheitsfachpersonen für interkulturelle Begegnungen und deren Herausforderungen sensibilisieren und sie beim Aufbau interkultureller Kompetenzen unterstützen. Denn ein mangelndes Verständnis für Kultur und Diversity verursacht Konflikte, schafft Misstrauen, führt zu unsachgemässer Behandlung und hat negative Auswirkungen auf die Gesundheit, so schreiben die Autorinnen Susan Schärli-Lim, Shih Shih Wong und Samuel van den Bergh.
Zu jedem der 25 Fallbeispiele bieten sie jeweils vier verschiedene Handlungsoptionen, mit denen auf die interkulturelle Herausforderung reagiert werden kann – und die mal mehr, mal weniger geeignet sind, um Missverständnissen vorzubeugen oder Konflikte zu entschärfen. Die Auswahl an Handlungsoptionen ist dabei nicht abschliessend, die Wahl einer Option solle jedoch letztlich zu Diskussionen und zur Reflexion anregen. «Das Buch soll dabei helfen, in interkulturellen Situationen den Autopiloten abzuschalten und bewusst zu überlegen, wie man am besten agiert», sagte Susan Schärli-Lim, Co-Autorin sowie Dozentin und Verantwortliche International Relations am ZHAW-Institut für Pflege, an der Online-Buchvernissage, die kürzlich vom Departement Gesundheit organisiert worden war.
Blinde Flecken aufdecken
Rund 70 Personen aus 15 Ländern hatten sich zur Vernissage auf Zoom zugeschaltet, womit der Anlass selbst zu einer interkulturellen Begegnung wurde – wenn auch zu einer rein virtuellen. Emanuel Feusi, Leiter der Fachstelle Interprofessionelle Lehre und Praxis am Departement Gesundheit, hob in seiner Laudatio hervor, wie wichtig das Thema das Buches ist. «Wir alle werden in eine gewisse Kultur hineingeboren, die sich von anderen unterscheiden. Diese Unterschiede können zu Missverständnissen und Konflikten führen, deshalb braucht es interkulturelle Kompetenzen.» Das Buch wolle zum Nachdenken anregen über die Fallstricke interkultureller Begegnungen und wie man diese als Gesundheitsfachperson erfolgreich meistern könne.
Entstanden ist die Idee für das Buch an der alljährlichen Winter School am ZHAW-Departement Gesundheit. Teilnehmende des Diversity-Kurses, der jeweils im Rahmen der Winter School stattfindet, konnten Fallbeispiele einreichen. Von den zahlreichen Vorschlägen wählten die Autorinnen jene 25 Beispiele aus, die sich nun im Buch wiederfinden. Dieses sei «von der Praxis für die Praxis», hob Co-Autor Samuel van den Bergh an der Vernissage hervor. Diesen Anspruch bestätigte eine der Teilnehmerinnen des Online-Anlasses. Sie setze das Buch in ihrer Organisation ein: «Es ist hilfreich, um den Blick zu öffnen und blinde Flecken in interkulturellen Situationen aufzudecken.»