Ergotherapie kann Inklusion in der Schule unterstützen
In ihrer Bachelorarbeit führen Anouk Jans und Denise Scheuber aus, wie Ergotherapeut:innen Lehrpersonen, Eltern und ganze Schulklassen mit Beratung und Interventionen unterstützen könnten. Für ihre Arbeit wurden sie am Tag der Bachelorarbeiten des ZHAW-Departements Gesundheit mit dem Förderpreis des Ergotherapie-Verbands Schweiz ausgezeichnet.
Kaum eine Woche vergeht ohne Medienberichte, die die Überlastung an Schweizer Schulen thematisieren. Selbst wenn einiges pointiert dargestellt sein mag, lässt es sich kaum von der Hand weisen, dass das Schulsystem in der Schweiz oft am Limit läuft. Gleichzeitig weisen Untersuchungen wie etwa der Bericht des internationalen Gremiums zur Überprüfung der UN-Behindertenrechtskonvention (2022) darauf hin, dass die Schweiz bei der Inklusion von Kindern mit Behinderungen im internationalen Vergleich hinterherhinkt. Als Gründe werden etwa mangelnde Ressourcen sowie grosse Unterschiede zwischen den Kantonen genannt.
Wieso Ergotherapie?
In Ländern wie den England, USA, Kanada oder Australien sind Ergotherapeut:innen Teil des inklusiven Schulsystems. Die ZHAW-Absolvent:innen Anouk Jans und Denise Scheuber sind überzeugt, dass diese Berufsgruppe auch in der Schweiz ein Erfolgsfaktor für die schulische Inklusion wäre. In ihrer literaturbasierten Bachelorarbeit «Ergotherapie als Erfolgsfaktor für die schulische Inklusion» weisen sie etwa darauf hin, dass Ergotherapeut:innen neben sozialwissenschaftlichen auch medizinische Kenntnisse mitbringen, die das Fachwissen anderer Berufsgruppen im Bildungswesen optimal ergänzen. Auch verfügten Ergotherapeut:innen über einen einzigartigen professionellen Blick auf Tätigkeiten und haben Instrumente zur Hand, um die Bedürfnisse von Kindern ganzheitlich zu erheben und Umgebungsfaktoren anzupassen. Dank ihrem therapeutischen Angebot können sie zudem Probleme in Schulklassen «niederschwellig» und frühzeitig abfangen.
Konkrete Leistungen der Berufsgruppe
In ihrer Arbeit beziehen sich die Studentinnen auf drei internationale Studien von Camden et al. (2021), Kennedy et al. (2018) und Phoenix et al. (2021) und verweisen dabei unter anderem auf das Konzept «Universal Design for Learning». Jans und Scheuber listen insbesondere auch konkrete Leistungen auf, die Ergotherapeut:innen in Schulen auf übergeordneter Ebene erbringen könnten. Dazu gehören etwa:
- Weiterbildung für Lehrpersonen und Eltern zu Aufmerksamkeitssteuerung, Fertigkeiten wie Schneiden sowie Grob- und Feinmotorik von Kindern oder zu kindlicher Entwicklung
- Beratung von Lehrpersonen zu Strategien für vermehrte Partizipation und Strukturierung im Klassenzimmer, gemeinsame Aktivitätsanalyse und -anpassung
- Interventionen für Klassen, zum Beispiel zu Pausenprogrammen, Selbstregulation oder Co-Teaching
- Identifizierung und Anpassung hinderlicher Umgebungsfaktoren sowie Förderung des Zugangs für alle Kinder
Zusammenfassend lässt sich sagen: Ergotherapeut:innen könnten Wissen und Strategien vermitteln, spezifische Interventionen in der ganzen Klasse umsetzen und Umweltgegebenheiten anpassen. Wichtig dabei: «Ergotherapeut:innen müssen mit allen Berufsgruppen im Schulumfeld Hand in Hand arbeiten können», so Jans und Scheuber.
Systemwechsel erforderlich?
Jans und Scheuber beleuchten in ihrer Arbeit auch Hindernisse im aktuellen System. Dazu gehört, dass in der Schweiz ergotherapeutische Leistungen – anders als zum Beispiel Logopädie – über das Gesundheits- und Sozialversicherungswesen finanziert sind. So zahlen Versicherungen zwar Einzeltherapien für Kinder, die etwa eine Behinderung haben. Die Finanzierung von Interventionen für Schulklassen oder Absprachen zwischen pädagogischen und ergotherapeutischen Fachpersonen sind jedoch nicht geregelt. Diese Trennung nach Bildungs- und Gesundheitsausgaben erschwert die interprofessionelle Zusammenarbeit, die gemäss internationalen Studien besonders wichtig wäre. Auch die knappen Mittel in Regelschulen allgemein sowie die grosse Heterogenität unter den Kantonen sind für die schweizweite Inklusion aller Kinder hinderlich.
Lob vom Ergotherapie-Verband
Die Bachelorarbeit von Jans und Scheuber war eine von drei Abschlussarbeiten, die das Institut für Ergotherapie nach vordefinierten Kriterien ausgewählt und dem Ergotherapie-Verband Schweiz (EVS) für den jährlich vergebenen Förderpreis vorgeschlagen hatte. Alle Arbeiten seien sehr gut gewesen, so der EVS. Weshalb der Entscheid schliesslich auf die von Jans und Scheuber fiel, begründete Lea Bösch bei der Prämierung am 30. Juni 2023, dem Tag der Bachelorarbeiten am Departement Gesundheit. Die Vertreterin der EVS-Sektion Ostschweiz betonte, das Thema der Arbeit sei nicht nur gesellschaftlich, sondern auch berufspolitisch besonders relevant. In der Ergotherapie gehe es immer um Teilhabe im Alltag und in der Gesellschaft. Da Kinder einen Grossteil ihrer Zeit in der Schule verbringen, wäre es wertvoll, Ergotherapeut:innen könnten sie dort im Klassenverband beobachten, Zusammenhänge von Handeln, Lernen und Teilhabe mit ihrer medizinischen Sicht ergänzen und zu inklusiven Lösungen beitragen. Jans und Scheubers Bachelorarbeit biete Ergotherapeut:innen Vorbilder und zeige Studien aus andern Ländern mit praktikablen Modellen auf. «Die Kooperation von medizinisch-therapeutischen und pädagogischen Fachpersonen führt zu einem Gewinn für alle Beteiligten, benötigt aber auch berufspolitische und gesellschaftliche Anpassungen», ist Lea Bösch überzeugt.