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Gesundheit

«Sterbefasten birgt viele moralische Konflikte»

Sabrina Stängle forscht am Departement Gesundheit über den freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit am Lebensende. Zuletzt konnte sie aufzeigen, dass fast jeder zweite Hausarzt schon jemanden dabei begleitet hat. Mit ihrer Forschung will Stängle eine sachliche Grundlage zum Sterbefasten schaffen – denn der Diskurs darüber wird kontrovers geführt.

Wenn das Leben mit viel Leid verbunden ist, entscheiden sich manche Menschen, durch den Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit zu sterben.

Sabrina Stängle, Sie haben Schweizer Hausärztinnen und Hausärzte zu ihren Erfahrungen mit Sterbefasten und ihrer Einstellung dazu befragt. Was gab Anstoss, über dieses Thema zu forschen?

Dank der hochspezialisierten Medizin können Menschen in der Schweiz viele Krankheiten überleben, an denen sie in anderen Ländern mit weniger guter medizinischer Versorgung sterben würden. Dieser Fortschritt hat neben all dem Guten, das er mit sich bringt, auch seine Schattenseiten. Das Überleben kann mit viel Leid verbunden sein. Zum Beispiel können Schmerzen, Schwindel oder Übelkeit so überhandnehmen, dass die betroffene Person sterben will. Und dann gibt es Patientinnen und Patienten, bei denen trotz der hochentwickelten Medizin die Therapiemöglichkeiten erschöpft sind und nichts mehr für sie getan werden kann. Ihre Erkrankung ist aber noch mit einem monatelangen Leidensweg verbunden. Auch bei solchen Fällen kann es sein, dass die Betroffenen ihr Leiden beenden wollen.

Wie viele Hausärztinnen und Hausärzte kommen mit dem Thema in Berührung?

Unsere Studie hat gezeigt: Fast jeder zweite der befragten Hausärzte hat schon Erfahrungen mit Sterbefasten gemacht. Bei 0,7 Prozent aller Todesfälle im Jahr 2017 war Sterbefasten die Todesursache, das sind 458 Personen. Vermutlich liegt die Dunkelziffer aber um einiges höher. Nicht alle Menschen kündigen ihren Entscheid an, nichts mehr zu essen und zu trinken.

Der Grossteil der Hausärzte steht dem Thema grundsätzlich positiv gegenüber. Wieso? Und wo äusserten die befragten Ärztinnen und Ärzte Bedenken?

Sterbefasten wird durch die meisten Hausärzte als natürliches Sterben klassifiziert. Das liegt möglicherweise daran, dass es nicht zu einem abrupten Sterben führt, sondern durch einen natürlichen Verlauf gekennzeichnet ist. Es wird zudem positiv gewertet, da die sterbewilligen Menschen den Prozess abbrechen können, wenn sie spüren, dass die Lust zu Leben grösser ist als das Leiden. Ich kann mir zudem vorstellen, dass die Hausärzte die Entscheidung der Menschen auch deshalb häufig mittragen können, da sie aufgrund der langjährigen Beziehungen zu ihnen und des Wissens über ihren Lebens- und Leidensweg die Situation nachvollziehen und verstehen können. Und obwohl jeder fünfte Hausarzt moralische Bedenken in der Begleitung eines Menschen beim Sterbefasten äusserte, empfinden fast 98 Prozent, dass den Menschen dabei ein Recht auf medizinische und pflegerische Begleitung zusteht.

Welche Herausforderungen stellen sich beim Umgang mit Sterbefasten?

Sterbefasten kann ein langer Prozess sein, der durchschnittlich 14 Tage dauert. Die Dauer hängt jedoch stark vom körperlichen Zustand eines Menschen ab: Bei sehr geschwächten Personen kann der Tod schneller eintreten, während sich das Sterbefasten bei lediglich betagten Menschen auch länger hinziehen kann. Grundsätzlich verlangsamen sich im Alter der Stoffwechsel und die Regeneration, Durst und Hunger nehmen ab. Dadurch kann sich der Sterbeprozess in die Länge ziehen. Das kann für die Betroffenen und für die Angehörige einerseits belastend sein. Anderseits ermöglicht der langsame Prozess Angehörigen und Freunden, sich von dem geliebten Menschen zu verabschieden, Konflikte beizulegen und die letzten Tage gemeinsam zu verbringen.

Eine weitere Herausforderung ist das Delir: Nach einigen Tagen ohne Nahrung und Trinken fallen viele Betroffene in diesen Zustand, in dem sie nicht mehr bei vollem Bewusstsein sind. Das kann dazu führen, dass sie nach Essen und Trinken verlangen. Dies stellt Betreuende vor ein moralisches Dilemma: Jemandem in dieser Situation etwas Existenzielles wie Flüssigkeit zu verweigern, ist sehr schwierig und ethisch fragwürdig. Erwachen die Sterbenden jedoch aus dem Delir, können sie sich hintergangen fühlen, wenn sie erfahren, dass ihnen gegen ihren Willen Flüssigkeit verabreicht wurde. Daher ist es wichtig, alle Beteiligten im Vorfeld auf solche möglichen Zwischenfälle vorzubereiten und das Vorgehen festzulegen.

Und nicht zuletzt: Angehörigen fällt es oft schwer, den Sterbewunsch der geliebten Person zu verstehen. Vor allem dann, wenn die sterbewilligen Menschen keine schweren körperlichen Leiden haben, sondern unter Einsamkeit leiden oder aus Angst vor zunehmender Abhängigkeit sterben wollen. Eine Erschwernis ist auch, wenn Personen innerhalb derselben Familie unterschiedlich mit dem Sterbewunsch umgehen. So wird der Wunsch zum Beispiel von der Partnerin verstanden und unterstützt, die Kinder können ihn aber nicht nachvollziehen.

Wie könnten Ärzte und Gesundheitsfachpersonen, aber auch Angehörige und die sterbewilligen Menschen im Umgang mit dem sensiblen Thema unterstützt werden?

Das Thema birgt viele moralische Konflikte. Darum wäre es wichtig, das Sterbefasten in der Grundausbildung beispielsweise von Ärzten und Pflegefachpersonen aufzunehmen. Im Moment wird es in den Ausbildungen nicht thematisiert. Immerhin wird es in Weiterbildungen in palliativer Pflege und Medizin behandelt. Da das Sterbefasten meist zu Hause oder in Alters- und Pflegeheimen stattfindet, sollten sich zudem neben Hausärzten auch Spitex-Organisationen und Heime stärker mit dem Thema auseinandersetzen, um ihren Mitarbeitenden eine gewisse Handlungssicherheit zu geben. Letztlich braucht es einen einheitlichen und professionellen Umgang mit dem Thema: Da es in der Schweiz bis jetzt keine Richtlinien zum Sterbefasten gibt, müssen Gesundheitsfachpersonen ihren eigenen Weg finden, um damit umzugehen. Mit unserer Forschung wollen wir das ändern und den Umgang mit dem Sterbefasten auf eine sachliche Grundlage stellen, vereinheitlichen und professionalisieren.

Zur Person

Sabrina Stängle
Wissenschaftliche Mitarbeiterin Institut für Pflege