Wie gelingt inklusive Bildung in der Schweiz?
Das Schweizer Schulsystem setzt auf Integration. Lehrpläne richten sich jedoch nach der kindlichen «Normalentwicklung», so dass Kinder mit Behinderungen häufig separiert unterrichtet werden. ZHAW-Forscher:innen untersuchen nun, wie inklusive Primarschulen funktionieren und beziehen dabei Kinder, Eltern und Fachpersonen ein.
Rund 18'000 Kinder in der Schweiz, knapp zwei Prozent, besuchten im Schuljahr 2020/21 eine Sonderschule und rund 14 Prozent aller Schüler:innen erhielten sonderpädagogische Förderung – in- oder ausserhalb des Regelunterrichts. Diese Zahlen sind gemäss dem UNO-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu hoch. Das brachte das internationale Gremium in seinem Bericht zur Überprüfung der UN-Behindertenrechtskonvention 2022 zum Ausdruck. Vier Jahre davor hatte auch der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes die Schweiz aufgefordert, die Bemühungen um ein inklusives, nichtdiskriminierendes Bildungssystem landesweit zu intensivieren.
Integration «so weit wie möglich»
Die Schweiz verfolgt seit 2011 einen integrativen Ansatz in der Bildung. Damit sollen «so weit wie möglich» alle Kinder in der Regelschule unterrichtet werden. Da sich die Lehrpläne auf körperlich selbstständige Kinder mit altersentsprechenden kognitiven und sozialen Fähigkeiten ausrichten, stossen Kinder mit Behinderungen jedoch häufig an Grenzen und werden teilweise oder ganz separat beschult. Länder wie die USA, Kanada, Neuseeland aber auch Finnland, Schweden, Norwegen und Italien verfügen hingegen seit längerem über inklusive Bildungssysteme. Auch wenn die Systeme unterschiedlich sind, gilt im Grundsatz, dass Kinder mit und ohne Behinderungen von Beginn an gemeinsam unterrichtet werden, damit sie von- und miteinander lernen.
«Alle Kinder profitieren von Inklusion»
Dass solche Schulen allen Kindern nützen, davon ist die Ergotherapie-Dozentin und Doktorandin Angelika Echsel überzeugt. «In einem inklusiven Umfeld treten Unterschiede aller Art in den Hintergrund. Die Kinder leben Diversität, was erwiesenermassen hilft, die Selbstakzeptanz aller Kinder zu steigern. Auch fördert das System deutlich die sozialen Kompetenzen der Kinder, während die schulischen Leistungen unverändert bleiben oder steigen». Als Ergotherapeutin, die lange eine eigene Praxis für Kinder führte, befasst sich Echsel seit Jahren mit dem Thema Inklusion. Zudem lebte sie während mehreren Jahren in Neuseeland und den USA, wo sie inklusive Schulsysteme kennenlernte. Nun hat sie die schulische Inklusion als Thema für ihre Doktorarbeit gewählt.
Zwei Schulklassen im Vergleich
Gemeinsam mit Prof. Dr. Christina Schulze und weiteren internationalen Forscher:innen geht Echsel derzeit in einer Studie den Fragen nach, welche Faktoren inklusive Schulpraxis aus der Perspektive von Kindern, Familien, Lehr- und Therapiepersonal begünstigten oder behindern und wie inklusive Bildung in Schweizer Regelschulen umgesetzt werden kann. Dazu analysieren sie in einem ersten Schritt internationale Studien, die diese Perspektiven einbeziehen. In einem weiteren Schritt führen sie in zwei Schweizer Primarschulklassen mit inklusivem Unterricht zwei vergleichende Fallstudien durch. Dabei richtet das Forschungsteam den Blick insbesondere auf gemeinsame Handlungen wie Gruppenarbeiten, Spiele oder Sport. «Es soll ein ganzheitliches Verständnis vom gemeinsamen Tun und den Interaktionen aller Akteur:innen in der Schule entstehen. Dieses hilft letztlich, die inklusive Schulpraxis in der Schweiz und international weiterzuentwickeln», so Echsel.
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