Multilateralismus und Diplomatie in einem Zeitalter der Unterbrechung
Am 5. November trafen sich die Teilnehmenden des CAS in Foreign Affairs & Applied Diplomacy in Zürich, um den Abschluss ihres Weiterbildungskurses zu feiern, der bereits zum fünften Mal stattfindet. Damit sie ein letztes Mal in die Welt der internationalen Beziehungen eintauchen konnten, wurde Corinne Momal-Vanian, Exekutivdirektorin der Genfer Kofi Annan Foundation, nach Zürich eingeladen, um ihre Erkenntnisse über Multilateralismus und Diplomatie im Zeitalter der Disruption zu teilen.
Zu Beginn ihres Vortrags sprach Momal-Vanian über Multilateralismus, ein institutionelles Konzept zur Koordinierung der Beziehungen zwischen Staaten auf der Grundlage vereinbarter Verhaltensgrundsätze, wie es von John Gerard Ruggie in den 1990er Jahren definiert wurde. Die Welt hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert, was sich nicht nur auf das globale Machtgleichgewicht ausgewirkt hat, sondern auch zur Entstehung neuer Interpretationen des Multilateralismus geführt hat. Momal-Vanian war über 30 Jahre lang bei der UNO tätig. Wenn sie sich an ihre Zeit am UN-Hauptsitz in New York in den 1990er Jahren erinnert, beschreibt sie diese als von Optimismus und Hoffnung nach dem Ende des Kalten Krieges geprägt. Global Governance wurde als positive Kraft wahrgenommen. In diesen aussergewöhnlichen Zeiten gelang es der UNO beispielsweise, ihre friedenserhaltenden Massnahmen von einem zuvor sehr begrenzten Niveau aus erheblich auszuweiten. In den letzten Jahren hat sich mit dem unübersehbaren Aufstieg Chinas zu einem wichtigen Akteur im multilateralen System ein deutlicher Wandel vollzogen: Die Volksrepublik hat Japan als zweitwichtigsten Beitragszahler der UNO überholt, und in vier der 14 Sonderorganisationen der UNO stehen chinesische Staatsangehörige an der Spitze.
Diplomatie heute: Zerbrochen und abgekoppelt?
In den letzten fünf Jahren sind ernsthafte Zweifel daran aufgekommen, ob das multilaterale System noch in der Lage ist, seine Versprechen einzuhalten. Seit der COP21 in Paris hat es kein grösseres multilaterales Abkommen mehr gegeben. Das internationale System scheint zerbrochen zu sein. Die Vereinten Nationen waren zum Beispiel nicht in der Lage, eine Lösung für den tödlichen Konflikt in Syrien zu finden. Es mangelt an Zusammenarbeit bei vielen neu auftretenden Problemen. Dieses Fehlen einer Führungsrolle auf internationaler Ebene spiegelt die heutige Diplomatie wider, die aus der Sicht eines Aussenstehenden als kaputt und unzusammenhängend erscheint.
Ein Beispiel: Obwohl viel über die Ausgewogenheit der Geschlechter geredet wird und der UN-Generalsekretär ein ausgewogenes Kabinett ernannt hat, sind die meisten Entscheidungsträger bei der UNO in Wahrheit immer noch männlich. In Genf sind etwa 30 Prozent der Botschafter weiblich - das ist zwar ein Fortschritt, spiegelt aber immer noch nicht die Realität in Bezug auf die Weltbevölkerung wider. Darüber hinaus wird jungen Menschen in der Welt des Multilateralismus wenig Raum gegeben. Es muss viel getan werden, um die Diplomatie integrativer und repräsentativer zu machen.
Ein Hoffnungsschimmer
Gleichzeitig geben die jüngsten Entwicklungen Anlass zur Hoffnung: Reisebeschränkungen aufgrund der Pandemie haben dazu beigetragen, die Digitalisierung in der Diplomatie zu beschleunigen. So findet im Juni 2020 die erste hybride Sitzung des Menschenrechtsrats in Genf statt.
Momal-Vanian zufolge ist man sich bewusst, dass es einer Zusammenarbeit bedarf, um an neuen Technologien zu arbeiten, sei es über die Initiative AI for good oder im Rahmen des mutigen Geneva Science and Diplomacy Anticipator (GESDA), den die Teilnehmer des CAS während ihrer Exkursion nach Genf besuchten. Was das Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern betrifft, so wurden auch gute Plattformen wie das Führungsnetzwerk International Gender Champions geschaffen.
Während der Pandemie konnte Genf seine Stärke als gut funktionierender Wissenscluster unter Beweis stellen: Die am CERN durchgeführten Forschungsarbeiten zur Messung von Aerosolen (Ausbreitung von Tröpfchen) waren beispielsweise für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) von Nutzen. Momal-Vanian stellte auch fest, dass es umso leichter ist, einen Konsens zu finden, je technischer das Thema ist. Diese Schlussfolgerung untermauert die Absicht der Schweiz, Genf als Ort zur Beschleunigung der Wissenschaftsdiplomatie zu unterstützen.
Die Veranstaltung schloss mit einer Fragerunde zu einer breiten Palette von Themen. Die Frage nach der humanitären Tradition der Schweiz, die sie Organisationen wie dem IKRK verdankt, endete mit dem Aufruf an die Diplomaten, nicht in Zynismus zu verfallen, sondern an ihren hohen Prinzipien festzuhalten und trotz aller Herausforderungen optimistisch zu bleiben, um zu einer besseren Welt beizutragen.
Kontakt: Florian Keller, Studienleiter CAS Foreign Affairs & Applied Diplomacy, International Management Institute