Versicherung von Klein- und Mikrounternehmen: Ein unterversorgter Markt
Mikro- und Kleinunternehmen suchen eine individuelle und persönliche Betreuung. Dem steht die hohe Fluktuation im Aussendienst der Versicherungsbranche entgegen. Auch digitale Lösungen bieten bisher noch keinen Mehrwert für die Kundschaft. Um den grossen Markt an Klein- und Mikrounternehmen bestmöglich zu nutzen, müssen sich Versicherer weiterentwickeln und entsprechende Angebote schaffen. Das zeigt die Versicherungsstudie 2023 der ZHAW, Synpulse und Zühlke.
Die Klein- und Mikrounternehmen gelten als das Rückgrat der Schweizer Wirtschaft. Sie stellen 99 Prozent der Unternehmen sowie zwei Drittel der Beschäftigten. Doch sind sie mit den derzeitigen Versicherungslösungen gut bedient? Dieser Frage nimmt sich die diesjährige Versicherungsstudie der ZHAW School of Management and Law in Zusammenarbeit mit Zühlke und Synpulse an. Im Rahmen dieser Studie wurden 1439 KMUs sowie die zehn grössten Versicherer der Schweiz befragt.
Die persönliche Note
Grundsätzlich hat die Umfrage gezeigt, dass die Kundschaft mit den Leistungen ihrer Versicherer zufrieden ist. Doch dieses Resultat wird getrübt durch das Feedback aus mehreren Gesprächen mit einzelnen Mikrounternehmen. Eine Treuhänderin fasst es in ihrem Statement sehr gut zusammen. Sie erzählt, dass sie trotz der für sie erheblichen Prämienbelastung der Berufshaftpflicht und ihrer zwölfjährigen Treue zu einem Versicherer nie auch nur ein einfaches «Danke» zu hören bekam. Stattdessen hätte in dieser Zeit zehn Mal die Betreuung gewechselt. Das Gefühl nicht wichtig genug zu sein für die «grossen Versicherer» reiht sich ein in den generellen Trend zur Skepsis gegenüber Konzernen.
Fluktuation und Wissensverlust bei den Versicherern
Die Präferenz der Kundschaft in der Art und Weise der Beratung liegt ganz klar auf Telefon, Mail oder immer noch auf dem persönlichen Kontakt. Entsprechend legen zahlreiche Versicherer hier einen Fokus ihrer Investitionen. Gleichzeitig wird das Thema auch als problematisch wahrgenommen, da die Komplexität in der Beratung der Klein- und Mikrounternehmen deutlich höher ist als im Privatkundensegment. Erfahrung ist hier zentral. Diese ist angesichts der hohen Fluktuationsraten im Aussendienst ein rares Gut geworden. Es stellt sich hier die Frage, inwieweit angesichts der knappen personellen Ressourcen und der durch die involvierten Prämienvolumen limitierten Provisionen digitale Lösungen zwingend werden.
Digitale Lösungen
Obwohl dem persönlichen Kontakt klar den Vorzug gegeben wird, setzten immer mehr Versicherer auf digitale Interaktionskanäle. Doch die vermeintliche Einfachheit dieses digitalen Tools scheitert an der Tatsache, dass die meisten Klein- und Mikrounternehmen ihre Versicherungspolicen bei drei oder mehr Versicherern haben. Somit hilft das Portal oder die App nicht weiter, weil es gleich drei davon brauchen würde. «Eine Versicherung muss sich in einem solchen Umfeld schon sehr genau überlegen, wie sie mit digitalen Angeboten beim Kunden Mehrwert schafft. Gelingen kann das nur, wenn das Angebot im Kerngeschäft des Kunden einen echten Nutzen stiftet», sagt Lukas Stricker, Projektleiter der Studie von Seiten ZHAW.
Ansprüche an die jeweiligen Versicherungen
Versicherung ist nicht gleich Versicherung. Manuela Kaufmann, Projektpartnerin seitens Zühlke erklärt: «Die Ansprüche und Erwartungen gehen hier weit auseinander. So soll zum Beispiel eine Motorfahrzeugdeckung möglichst günstig sein, beim Krankentaggeld sollen die digitalen Zugänge zur effizienten Administration gut funktionieren und in der Rechtsschutzpolice stehen die Deckungen im Vordergrund.» Die Diversität an Ansprüchen führe dazu, dass die Kundschaft ihre Versicherungen nach dem jeweils passenden Angebot auswählt und nicht nach dem Anbieter. Dies zeigt auch die Umfrage: Von den versicherten Personen, die mehr als eine Police besitzen, haben lediglich 19 Prozent alle Policen bei einem einzigen Versicherer. Bei Kunden, die via Makler gehen, sind es sogar nur 9 Prozent.
Herausforderungen für Schweizer KMU
Die Klein- und Mikrounternehmen kämpfen zurzeit an vielen Fronten: Steigende Zinsen, unterbrochene Lieferketten, Arbeitskräftemangel, ein sich ausweitender regulatorischer Druck sowie zunehmend akute Gefahren durch Cyberangriffe. Die dadurch benötigte Expertise in Datensicherheit, Nachhaltigkeit oder Supply Chain Management können Klein- und Mikrounternehmen kaum intern aufbauen. Hier versuchen sich Versicherungen durch Zusatzdienstleistungen als Partner zu positionieren. Unsere Umfrage zeigt allerdings, dass dies nur selten von Erfolg gekrönt wird. Hier lohnt ein Blick ins Ausland, wo zunehmend individualisierte Versicherungslösungen angeboten werden.
AXA Climate macht erste Schritte
In einem Interview erklärt Sylvain Coutu, Leiter Agrarversicherungen von AXA Climate, wie sie ein massgeschneidertes Produkt für Winzer:innen entwickelt haben. In Zusammenarbeit mit Rémy Cointreau wurde ein innovatives Versicherungsprodukt entwickelt, das Winzer:innen dazu ermutigt, den Einsatz von Pestiziden gegen die drei am weitesten verbreiteten Rebkrankheiten zu reduzieren. Das Produkt wird derzeit als Pilotprojekt eingeführt. Nach einer erfolgreichen Testphase ist eine Einführung in Frankreich und anderen europäischen Ländern geplant. «Der Trend, massgeschneiderte Lösungen für spezifische Industriezweige in Zusammenarbeit mit Ökosystem-Partnern anzubieten, wird sich auch in der Schweizer Versicherungsbranche noch weiter verstärken», sagt Lukas Diener, Projektpartner seitens Synpulse.
Mögliche Lösungsansätze
Letztlich besteht ein strukturelles Dilemma im Markt: KMU möchten individuelle Angebote und persönliche Beratung, wollen oder können dafür aber nicht bezahlen. Die Versicherer möchten Kundennähe, wollen oder können sich aber die Kosten der dafür notwendigen Individualisierung des Angebotes nicht leisten. Lösungsansätze müssen daher ganzheitlich im Sinne einer Transformation der gesamten Wertschöpfungskette angedacht werden. Dabei müssen gezielt modernste Technologien zum Einsatz kommen, die nicht einfach die bestehenden Prozesse digitalisieren, sondern die so wertvolle persönliche Interaktionszeit maximal zum Tragen kommen lassen. Gleichzeitig müssen die Produkte modularer und die Entwicklungsprozesse agiler werden, um mit möglichst geringen Kosten möglichst nahe an den individuellen Bedürfnissen der Kundschaft dranzubleiben.
Kontakte
Lukas Stricker, Institut für Risk & Insurance, ZHAW School of Management and Law
Telefon 058 934 74 62, E-Mail lukas.stricker@zhaw.ch
Valerie Hosp, Kommunikation, ZHAW School of Management and Law
Telefon 058 934 40 68, E-Mail valerie.hosp@zhaw.ch