Patientenbeteiligung und -integration
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Florian Liberatore, Christophe Vetterli (V01)
Einleitung
Eines der vier zentralen Leitprinzipien der Lean-Vision lautet Patientenorientierung. Nach diesem Leitprinzip bekommt die Patientin/der Patient eine Rolle als Kunde im Spital zugesprochen, die auf allen Ebenen sowie in allen Prozessen und Strukturen konsequent berücksichtigt werden muss. Entsprechend steht bei einer Lean-Transformation eines Spitals die Ausrichtung aller Leistungen an den Patientinnen und Patienten im Fokus, mit dem Ziel, die Patientenorientierung zu erhöhen. Das Grundprinzip lautet: Patient zuerst. Eng verknüpft mit der Frage nach der Patientenorientierung steht die Herausforderung, den optimalen Grad der Patientenbeteiligung bzw. Patientenintegration bei der Leistungserbringung zu finden. Wie in Abbildung 1 schematisch dargestellt, kann ein identes Ergebnis in der Leistungserbringung auf einer Iso-Gewinnlinie durch verschiedene Kombinationen aus einem bestimmten Aktivitätsgrad der Patientin/des Patienten und der Spitalmitarbeitenden erbracht werden. Beispielweise kann eine Patientenakte von den Patientinnen und Patienten selbst auf die Station gebracht werden oder die Tätigkeit wird von einem Spitalmitarbeitenden übernommen.
Unter der Voraussetzung, dass eine Mindestaktivität der Spitalmitarbeitenden nicht unterschritten wird – die Patientin/der Patient kann niemals komplett die Leistungserbringung im Spital selbst übernehmen – können also die Patientinnen und Patienten bis zu einem gewissen Grad in die Leistungserbringung des Spitals involviert werden, um die Spitalmitarbeitenden zu entlasten. Auf diese Weise kann das Flussprinzip besser zur Geltung kommen (Walker & Betz, 2013), da wertschöpfende Aktivitäten unmittelbar von den Patientinnen und Patienten als Wertschöpfungsobjekt durchgeführt werden. Die Auswirkung auf die Patientenorientierung des Spitals, die sich durch die Patientenzufriedenheit und Patientensicherheit ergibt, ist jedoch nicht eindeutig vorherzusagen. Zum einen hängt der Grad der Zufriedenheit davon ab, ob die stärkere Patientenintegration den Präferenzen der Patientinnen und Patienten entspricht und damit zufriedenheitssteigernd wirkt. Zum anderen ist zu prüfen, ob sich durch die Externalisierung Risiken für die Patientensicherheit ergeben.
Leitfragen für die Praxis
Beispielhafte Praxisfragen wären:
- Bedeutet Lean-Management, dass ich die Patientinnen und Patienten mehr an der Leistungserbringung beteilige?
- Welchen Nutzen und welche Risiken hat eine stärkere Patientenbeteiligung?
- Wie kann die Patientenbeteiligung im Spital konkret aussehen?
- Welche Auswirkungen hat eine stärkere Patientenbeteiligung auf das Leitprinzip der Patientenorientierung?
- Bedeutet das Flussprinzip, dass ich die Patientinnen und Patienten stärker an der Leistungserbringung beteilige?
- Ist mehr Patientenorientierung aus Sicht des Lean-Managements immer besser?
Detailbeschreibung des Konzepts
Bei der Patientenintegration im Spital können folgende Patientenrollen unterschieden werden (Fliess, 2009): Als Co-Designer ist die Patientin/der Patient an der Entscheidung beteiligt, welche Behandlungsalternative gewählt werden soll. Ein Mehr an Kommunikation und gemeinsame Spezifikation über Behandlungsmöglichkeiten mit den Patientinnen und Patienten während des Spitalaufenthalts folgt dem Konzept der Patientenorientierung und zeichnet sich durch eine höhere Patientenintegration aus.
In der Rolle der Patientinnen und Patienten mit der Rolle als Co-Produzent bietet sich für das Spital der grösste Spielraum zur Veränderung des Aktivitätsniveaus der Patientin/des Patienten. Als zu behandelnde Personen sind Patientinnen und Patienten immer als Co-Produzenten unmittelbar an der Leistungserbringung beteiligt. Darüber hinaus können sie für verschiedene Tätigkeiten im Wertstrom eingesetzt werden, wie beispielsweise die Patientenakte selbst auf Station bringen.
Als Co-Interactor tragen Patientinnen und Patienten erheblich zu den Informationsflüssen im Spital bei, indem sie beispielsweise die notwendigen Informationen über ihre Beschwerden, Krankheitsvorgeschichten und Nebenerkrankungen liefern. Damit tragen sie wesentlich zur Systemleistung sowohl negativ als auch positiv bei. Als sogenanntes „Substitute for Leadership“ beeinflussen Patientinnen und Patienten auch durch ihr Auftreten die Motivation, Einstellung und das Verhalten der Spitalmitarbeitenden und übernehmen unbewusst Führungsaufgaben als Leistungsempfänger.
Praxisempfehlungen
Entscheidungen über eine stärkere bzw. schwächere Patientenintegration sollten in enger Abstimmung mit allen an der Leistungserbringung unmittelbar und mittelbar beteiligten Berufsgruppen des Spitals erfolgen, da eine Änderung nicht absehbare Auswirkungen auf die Systemleistung und den Patientenfluss im Spital haben kann. Konsequenzen ergeben sich u.a. für Prozessstandards, Kommunikationsströme und Verantwortlichkeiten.
Mit Hilfe einer Skill-Matrix kann schnell eruiert werden, ob die Voraussetzungen für eine stärkere Patientenintegration in einzelnen Aktivitäten vorhanden sind (siehe Abbildung 2).
Dazu sind zunächst die Aktivitäten, die sich für eine stärkere Patientenbeteiligung eignen, zu identifizieren. Vorab muss jedoch abgeklärt werden, ob es rechtlich erlaubt ist, die Aktivität an die Patientinnen und Patienten zu übertragen. Mittels Gemba-Walks und Service-Blueprints kann entlang der Patient-Journey die Vorauswahl an Aktivitäten erfasst werden. Anschliessend sind, wie in Abbildung 2 ersichtlich, Kriterien zu definieren, welche für die Entscheidung hin zu einer stärkeren Patientenbeteiligung relevant sind. Mittels eines Scoring-Ansatzes (Zählen von Punkten) kann man die selektierten Aktivitäten bewerten und entscheiden, welche Aktivitäten einen ausreichenden Grad erreichen, um die Patientenintegration vorzunehmen.
Besonders wichtig ist es, zusätzlich die Patientenpräferenzen zu evaluieren. Dazu können verschiedene Befragungs- und Beobachtungstechniken eingesetzt werden, die das Interesse an einer stärkeren Patientenbeteiligung aus Patientensicht erfassen.
Die Entscheidung über eine stärkere Einbindung bzw. eine stärkere Entlastung der Patientinnen und Patienten von Aufgaben und Entscheidungen macht häufig jedoch noch eine weitere Differenzierung notwendig. Nicht jede Patientin/jeder Patient weist die gleichen Fähigkeiten, einen ausreichenden Gesundheitszustand für Eigenaktivitäten sowie das gleiche Interesse an der Beteiligung an der Leistungserbringung auf. Daher sollten Patientensegmente identifiziert werden. Diese umfassen Patientengruppen, die in ihrer Kompetenz und ihren Präferenzen für einen bestimmten Aktivitätsgrad bei der Leistungserbringung ähnliche Voraussetzungen aufweisen. Das Spital sollte dann je nach Patientensegment die Leistungserbringung mit mehr bzw. weniger Patientenbeteiligung ausgestalten.
Die Patientenintegration in die Leistungserbringung sollte vom Spitalmanagement evaluiert werden. Dazu ist eine Vorher-Nachher-Analyse sinnvoll, bei der die Veränderungen bei der Patientenzufriedenheit, in den Prozesszeiten und der Prozessvariabilität sowie zu den Schnittstellen mit vorgehenden und nachfolgenden Wertschöpfungsprozessen vor und nach der Massnahme dokumentiert und ausgewertet werden.
Mit dem Einsatz von Simulationszonen (Vetterli & Jäggi, 2015) können im Spital Änderungen im Grad der Patientenbeteiligung aber auch in einer Testumgebung mit Spitalmitarbeitenden und Patientinnen und Patienten zunächst getestet werden, bevor diese tatsächlich Eingang in die Leistungserbringung des Spitals finden.
Patientenbeteiligung kann nicht ohne Abgleich mit den Leitprinzipien der Lean-Vision diskutiert werden, da eine Veränderung im Grad der Patientenbeteiligung Auswirkungen auf den Wertstrom der Leistungserbringung hat. Daher müssen bei Überlegungen zur Patientenintegration die Leitprinzipien der Systemleistung, des Flussprinzips und vor allem, wie bereits oben beschrieben, der Patientenorientierung beachtet werden. Nur im Zusammenspiel aller Faktoren kann die optimale Leistung für die Patientinnen und Patienten als zentrale Zielvision eines Lean Hospitals erbracht werden.
Bitte zitieren Sie diese Quelle wie folgt:
Liberatore, F. & Vetterli, C. (2016). Patientenbeteiligung und -integration. In A. Angerer (Hrsg.), LHT-BOK – Lean Healthcare Transformation Body of Knowledge, Version 1.0. Winterthur. Abgerufen von www.leanhealth.ch
Literatur
Fliess, S. (2009). Dienstleistungsmanagement: Kundenintegration gestalten und steuern. Springer Verlag.
Walker, D. & Betz, P. (2013). Jetzt kommt der Patient – Das Notfall-Flusskonzept. Zürich: walkerproject ag.
Vetterli, C. & Jäggi, C. (2015). Der Patient kommt immer zuerst. In: D. Walker (Hrsg.): Lean Hospital: Das Krankenhaus der Zukunft. Berlin: MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft. S. 35-48.
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