Nebenströme: Nutzbar machen statt entsorgen
Sie machen aus Kakaoschalen Glace und verarbeiten Kartoffelschalen zu Kunststoff: Prof.Dr. Nadina Müller und Prof. Dr. Selçuk Yildirim
Wer regelmässig Gemüse kocht, kennt es: Im Zubereitungsprozess fallen Rüstabfälle an, die danach im besten Fall im Kompost entsorgt werden. Bei der industriellen Lebensmittelherstellung
ist das nicht anders: Während der Verarbeitung gehen 35% an Rohmaterial verloren. Diese sogenannten Nebenströme wollen Nadina Müller und Selçuk Yildirim nutzbar machen und zu nachhaltigen Lebens mitteln und Verpackungen verarbeiten.
Wie seid ihr auf das Thema Nebenströme gekommen?
Nadina: Ich beschäftige mich seit zehn Jahren damit – früher für einen Hersteller von Lebensmittelverarbeitungsanlagen und seit sechs Jahren an der ZHAW. So systematisch läuft das aber erst, seit wir vor eineinhalb Jahren mit diesem Dreijahres-Projekt gestartet sind. Vorher fehlte uns das Geld dafür. Dafür ist das Thema jetzt richtiggehend explodiert, wir bekommen enorm viele Anfragen in dem Bereich.
Kommen diese Anfragen aufgrund eures Projekts oder weil das Thema so aktuell ist?
Nadina: Vermutlich beides. Das Thema brennt definitiv unter den Nägeln, alle möchten Lösungen haben.
Selçuk: Und das gilt nicht nur für die Schweiz, sondern für ganz Europa. Eine einzelne Industrie kann aber nicht wirklich eine Lösung finden, deshalb wollen wir das übernehmen.
Was sind denn die grössten Herausforderungen bei der Nutzbarmachung von Nebenströmen?
Nadina: Wenn die Nebenströme nass anfallen, ist es sehr aufwändig, sie zu trocknen – das killt häufig den Business Case. Und faserreiche Nebenströme verursachen oft ein raues Mundgefühl, weshalb sie sehr fein vermahlen werden müssen. Auch dies bedeutet einen grossen Aufwand.
Selçuk: Auf Verpackungsseite müssen wir neben den neuen Materialien auch neue Verarbeitungsprozesse entwickeln. Wir haben zum Beispiel eine Folie aus Kartof-felschalen hergestellt, müssen nun aber schauen, wie diese im grossen Massstab maschinell hergestellt werden kann, weil die bisherigen Maschinen für ein anderes Material optimiert sind.
Ihr habt 15 Rohmaterialien ausgewählt, mit denen ihr arbeitet. Welche sind das?
Nadina: Zum Beispiel Kaffeesilberhäutchen, Buttermilch, Apfeltrester, Weizenkleie oder Ölpresskuchen.
Warum sind es genau diese Nebenströme geworden?
Selçuk: Zehn haben wir deshalb gewählt, weil sie das ganze Jahr über in grossen Mengen erhältlich sind und einen grossen Einfluss auf die Umwelt haben. Die anderen fünf waren unsere persönlichen Wünsche, weil sie zum Beispiel interessante Inhalts-stoffe haben.
Nadina: Ein hoher Proteingehalt etwa macht einen Nebenstrom ernährungsphysiologisch interessant. Auch lösliche Nahrungsfasern und ein gutes Fettsäureprofil sind spannend. Wir haben aber bewusst auch schwierige Nebenströme mit in die Auswahl genommen, die mit Schwermetallen oder Pestiziden belastet sind, Kakaoschalen zum Beispiel. Die Idee ist, Lösungen zu finden, wie man damit umgehen kann. Am Ende wollen wir einen Leitfaden herausgeben zum Thema Nebenströme und da wollen wir die heiklen Themen natürlich nicht ausblenden.
Habt ihr bei den Kakaoschalen schon eine Lösung gefunden?
Nadina: Ja, da konnten wir die Belastung um das Zehnfache reduzieren.
Somit verbleiben nur Cadmiummengen unterhalb der für Kakao zulässigen Gehalte im Nebenstrom. Allerdings arbeiten wir bisher mit einer wässrigen Lösung, was nicht sehr nachhaltig ist. Das müssen wir noch optimieren.
Wie ich gehört habe, habt ihr auch bereits eine Glace aus den Schalen hergestellt.
Nadina: Das ist so. Und wir sind bereits in ersten Gesprächen mit einem interes-sierten Partner, um die Glace im grossen Stil herzustellen. Allerdings muss ich klar-stellen, dass die Glace ein separates Projekt ist, das in studentischen Arbeiten lief. Aber natürlich profitieren unser grosses Nebenstrom-Projekt und diese kleineren Arbeiten voneinander.
Selçuk: Wir sind übrigens auch im Gespräch mit einem Schokoladenhersteller, da wir Verpackungen aus Kakaobohnenschalen herstellen möchten. Da würde dann schon das Äussere schokoladig riechen.
Was den Duft angeht sind die Kakaobohnenschalen vermutlich der verführerischste Nebenstrom. Habt ihr ein Lieblings-Material, das spannender ist als alle anderen?
Nadina: Das ist ja fast, wie wenn man eines seiner Kinder als liebstes bezeichnen müsste. (lacht) Nein, das sind alles unsere Babys!
Dass Kakaobohnenschalen oder Aprikosenkerne als Nebenstrom anfallen, ist nachvollziehbar. Weizenkleie hingegen müsste eigentlich nicht in so Riesenmengen industriell entfernt werden, da wir diese problemlos mitessen könnten.
Nadina: Wenn alle Vollkorn essen würden, gäbe es diesen Nebenstrom tatsächlich nicht. Leider kauft aber ein Grossteil der Leute lieber Weissbrot. Auch bei Kartoffeln müsste man nicht immer die Schale entfernen, man könnte Chips auch mit Schale herstellen.
Direkt unter der Schale befinden sich doch auch die meisten Vitamine, nicht?
Selçuk: Das stimmt zwar, aber Chips isst man ja nicht unbedingt, weil sie so gesund sind. (lacht)
Nadina: Die grösste Schadstoffbelastung befindet sich auch zu äusserst. Ursprünglich wurde also auch geschält, weil es sicherer war. Heute wäre das allerdings nicht mehr nötig.
Ist den Konsumentinnen und Konsumenten nicht bewusst, dass sie mit ihrem Einkaufsverhalten den Lebensmittelverlust beeinflussen können, oder interessiert es sie nicht?
Nadina: Schwierig zu sagen. Die Konsumenten sagen zwar stets, dass sie sich nachhaltiger ernähren möchten, aber ob sie es dann wirklich tun, ist eine andere Frage.
Selçuk: Beim Thema Verpackung sind die Konsumenten hingegen mittlerweile ziemlich kritisch, weshalb es eine grosse Nachfrage nach nachhaltigeren Verpackungsmaterialien gibt.
Du sprichst das Plastik an.
Selçuk: Genau. Das Material bringt sehr gute Eigenschaften mit sich, aber als
es erfunden wurde, hat niemand daran gedacht, dass es nicht abgebaut werden kann. Und heute landen immer noch 40 Prozent aller Kunststoffe weltweit in der Natur. Es braucht also ein konsequentes Recycling auf der ganzen Welt oder Alternativen.
Hierzulande bietet man Lösungen wie Gemüsebeutel aus Stoff oder Unverpackt-Regale an.
Nadina: Für solche Lösungen muss man sich allerdings sehr gut organisieren,
das funktioniert meist nicht. Die Leute scheuen jeden Mehraufwand.
Selçuk: Joghurtbecher zum Beispiel sind heute nur noch aus dünnem Plastik gefertigt, dafür haben sie aussen einen Karton. Der ist perforiert, man kann ihn also problemlos entfernen und recyclen. Ich frage in meinen Vorlesungen immer, wer das tatsächlich macht und es sind jeweils nur 10-20 Prozent.
Nadina: Immerhin!
Selçuk: Es zeigt aber, dass es nichts bringt, wenn wir Lösungen offerieren, die dann nicht angewendet werden.
Was macht ihr im Alltag, um Nebenströme zu vermeiden und möglichst nachhaltig zu konsumieren?
Selçuk: Ich benutze, wann immer möglich wiederverwendbare Verpackungen und trage deshalb auch stets einen Kaffeebecher im Rucksack mit. Zudem achte ich da-rauf, Verpackungen so sorgfältig wie möglich zu trennen und zu recyceln, sei es der Joghurtbecher oder der Karton von Barilla, nachdem ich das Plastik entfernt habe.
Nadina: Ich versuche, meine Rohmaterialien möglichst ganz zu verwenden und mache eine gute Wochenplanung unserer Mahlzeiten, in der ein Gericht offen bleibt für Resteverwertung.
Dies war ein Interview mit Prof. Dr. Nadina Müller und Prof. Dr. Selçuk Yildirim über Ihre Tätigkeit am Institut, Text von Jeanette Kuster und Bilder von Markus Lamprecht, und hier als Dokument(PDF 386,4 KB) zum Herunterladen.